4.5 Renaud und Kindheit

„Dans ma tźte, j’suis pas un homme, dans ma tźte, j’ai quatorze ans.“ Dieses Zitat aus dem Chanson Peau aime (aus dem Album Ma gonzesse, Polydor 1979, Text in Renaud 1988, 112) ist charakteristisch für Renaud (Rioux 1992, 365). Seine Liebe zur Kindheit und zu Kindern wird in vielen Chansons deutlich, entweder andeutungsweise wie in Dans mon H.L.M. oder eindeutig wie im Chanson pour Pierrot, in Le sirop de la rue, Les dimanches ą la con, Morts les enfants, in Mistral gagnant und in seinen Liedern über seine Tochter Lolita. „Ma patrie, c’est l’enfance“, sagt Renaud (Séchan 1989, 13) und sein Bruder Thierry Séchan merkt an: „Un jour, Renaud sera vieux. Il ne sera jamais adulte. Renaud appartient irrémédiablement ą l’enfance“ (Séchan 1989, 156).

 

4.5.1 Mistral gagnant[1]

Nostalgisch denkt Renaud in diesem Chanson an seine Kindheit zurück und weckt seine Erinnerungen an alte Kinderspiele und Süßigkeiten. Das Chanson ist zwar an Lolita gerichtet, wirkt aber eher wie ein innerer Monolog, in dem Renaud seine Vorstellungen und Gedanken ausdrückt.

 

4.5.1.1 Lexik

Der Titel des Chansons (von 1985, in Renaud 1988, 216 ff.) hat schon zu vielen Interpretationen und Spekulationen angeregt, hat viele Gespräche und Diskussionen geweckt und dem Chanson einen gewissen geheimen Zauber verliehen. Ein Grund für diese Verwirrungen besteht darin, dass Mistral gagnant nicht etwa den „gewinnenden, aufkommenden Mistralwind“ meint, sondern eine bestimmte Bonbonart aus Renauds Kindheit, die es mittlerweile nicht mehr gibt. So bleibt der Ausdruck Mistral gagnant bei vielen Franzosen ohne Inhalt. In einem Interview mit Marc Thirion (1986, Anhang S. XLVI) beschreibt Renaud diese Süßigkeiten. Mistral gagnant nannte man Bonbons, die in kleinen roten oder grünen Packungen verkauft wurden. In der Öffnungslasche stand entweder perdu oder gagné. Mit einem mistral gagnant hatte man Glück, denn das bedeutete, dass man eine zweite Packung dieser Bonbons geschenkt bekam. „C’était notre dope ą nous“, erzählt Renaud, „ēa

ressemble aujourd’hui ą une petite nostalgie de mon enfance“ (Renaud, in: Thirion 1986, Anhang S. XLVII). Neben den nostalgischen Bezeichnungen für bestimmte Süßigkeiten machen auch die verschiedenen Register den Charme des Chansons aus, das eine Mischung aus familiärem Französisch, aus Argotvokabular, aus franēais populaire, aus literarischem Französisch und aus Elementen der Kindersprache enthält. Die Nostalgie der Kindheit wird jeweils zu Beginn einer Strophe ausgedrückt durch die Interjektion „Ah...“ (V. 1, 24, 47). Da Renaud in Gedanken mit seiner Tochter Lolita spricht, fällt er stellenweise in familiäres Vokabular oder in die Kindersprache, besonders bei der Beschreibung konkreter Handlungen und Situationen: „Pi donner ą bouffer/ą des pigeons idiots/leur filer des coups d’pied/pour de faux“ (V. 9 ff.). Bouffer und idiots sind sehr geläufige Ausdrücke aus dem familiären Französisch. Der Ausdruck pour de faux ist eine typische Wendung der Kindersprache mit der Bedeutung „faire semblant“. Auch die Beschreibung „Et sauter dans les flaques/pour la faire rāler/Bousiller nos godasses/et s’marrer“ (V. 32 ff.) basiert auf sehr geläufigem franēais familier, wobei allerdings der Ausdruck rāler negativ konnotiert ist. Bousiller im Sinne von rendre inutilisable und godasses für les chaussures sind geläufige Ausdrücke.

Sehr literarisch wirkt hingegen die bildliche Beschreibung „Et entendre ton rire/qui lézarde les murs/qui sait surtout guérir/mes blessures“ (V. 13 ff.), in der Renaud die ursprüngliche Bedeutung des Verbs lézarder hyperbolisch auf das Lachen bezieht. Das Lachen der Tochter ist ein immer wiederkehrendes Element, das metaphorisch mit dem Meer („Et entendre ton rire/comme on entend la mer/s’arrźter, repartir/en arričre“, V. 36 ff.) und mit dem Schreien der Vögel („Et entendre ton rire/s’envoler aussi haut/que s’envolent les cris/des oiseaux“, V. 59 ff.) verglichen wird. Auch die Personifizierung der Zeit („Te parler du bon temps/qu’est mort ou qui r’viendra“, V. 5 f.; „Te parler du bon temps/qu’est mort et je m’en fous“, V. 51 f. und „le temps est assassin/et emporte avec lui/les rires des enfants“, V. 66) fällt in das Register des literarischen Französisch und drückt Renauds Nostalgie aus. Es wird deutlich, dass er bedauert, seine Kindheit nicht wieder zurückholen zu können. Renaud scheint fast deprimiert zu sein und beschreibt in seinen Gedanken das Leben als sehr negativ, so zum Beispiel „et regarder les gens/tant qu’y en a“ (V. 3 f.), „et regarder la vie/tant qu’y en a“ (V. 26 f.), „regarder le soleil/qui s’en va“ (V. 49) und „le temps est assassin“ (V. 66). Allerdings schließt er mit dem Ratschlag „qu’il faut aimer la vie“

(V. 64). Durch die literarischen Ausdrücke und Stilmittel wirken Renauds Überlegungen sehr philosophisch. Er verkörpert nun nicht mehr den lauten Rebell wie vor zehn Jahren zu Beginn seiner Karriere, sondern den in sich gekehrten, nostalgischen und nachdenklichen Renaud.[2]

In der konkreten Erinnerung an seine Kindheit greift Renaud allerdings auf familiäres Vokabular zurück. Das Chanson ist durchsetzt mit verschiedenen Süßigkeiten-Bezeichnungen. An diese „bombecs fabuleux“ (V. 19) erinnert sich Renaud genau, so an die „car-en-sac et Mintho“ (V. 21), die er als Kind (mino, V. 18) im Laden stahl („qu’on piquait chez l’marchand“, V. 20), an die „caramels ą un franc“ (V. 22), an „les Carambars“ (V. 41), „les coco-boėrs“ (V. 42), „les vrais roudoudous“ (V. 43) und an „les Mistral gagnants“ (V. 23, 46, 69, 70). Der Ausdruck bombecs für „bonbons“ ist in keinem Wörterbuch verzeichnet, aber dennoch geläufig, besonders bei Kindern, die auch abkürzend ‘becs sagen. Die süßen, weichen Karamellstangen Les Carambars gibt es immer noch in Frankreich, allerdings sicher in anderer Form als zu Zeiten von Renauds Kindheit, denn er präzisiert „Les Carambars d’antan“ (V. 41), wobei das veraltete d’antan die literarische Bezeichnung für d’autrefois, du temps passé ist (Petit Robert 1994). Die coco-boėrs waren kleine Döschen aus Holz oder Metall mit Brausepulver in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Die „vrais roudoudous“

(V. 43) sind nach dem Petit Robert 1994 eine „confiserie faite d’une pāte coulée dans un coquillage ou une petite boīte de bois ronde, qu’on lčche.“ Die Bezeichnung roudoudou beruht auf der Wortbildung der Kindersprache, die mit lautlichen Doppelungen spielt. Sehr genau beschreibt Renaud den Effekt dieser Süßigkeiten, die „nous coupaient les lčvres/et nous niquaient les dents“ (V. 44). Das Verb niquer ist hier im Sinne von détruire, endommager zu verstehen, der allerdings nur im Dictionnaire de l’argot franēais et de ses origines (Colin 2001) verzeichnet ist. Der Petit Robert 1994 gibt für niquer nur die Bedeutung „posséder sexuellement, baiser“ an, so dass es sich um eine spezielle argotische Verwendung handelt.

In Gedanken spricht Renaud mit seiner Tochter Lolita. Seine Zuneigung zu ihr drückt er bildlich aus durch „en te bouffant des yeux“ (V. 29) und „Que si moi je suis barge/ce n’est que de tes yeux“ (V. 55 f.). Der metaphorische Ausdruck dévorer des yeux variiert Renaud durch die Verwendung des familiären Verbs bouffer, wodurch er eine gewisse Nähe und einen direkten Bezug aufbaut. Der Ausdruck barge als apokopierte Verlanform des Adjektivs jobard mit der Bedeutung „fou“ verstärkt den persönlichen Affekt.

Trotz des familiären und argotischen Vokabulars gelingt es Renaud, eine eindringliche Stimmung zu schaffen und sehr literarisch und poetisch über den Lauf der Zeit zu sinnieren. Lucien Rioux beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: „D’ailleurs, quand il lui arrive de chanter la tendresse, il fait montrer, malgré l’argot, d’une grande délicatesse“ (Rioux 1992, 365).

 

4.5.1.2 Morphosyntax und Phonetik

Auch wenn sich Renaud in Mistral gagnant durch die Verwendung der Personalmorpheme toi, te, tes und ton direkt an seine Tochter Lolita wendet, wird durch die Infinitivformen deutlich, dass er nur über die erzählte Situation nachdenkt und sie sich wünscht, zum Beispiel „Ah...m’asseoir sur un banc/cinq minutes avec toi/et regarder les gens/tant qu’y en a“ (V. 1 ff.). Das Präsens ist die durchgängige Zeit in dem Chanson, abgesehen von den Episoden, die sich auf Renauds Kindheit beziehen und im imparfait stehen („comment j’étais, mino/les bombecs fabuleux/qu’on piquait chez l’marchand“, V. 18 ff., „qui nous coupaient les lčvres/et nous niquaient les dents“, V. 44 f.). Das Chanson ist gekennzeichnet durch immer wiederkehrende Strukturen wie „Ah...m’asseoir sur un banc/cinq minutes avec toi“ (V. 1, 47) und „Ah...marcher sous la pluie/cinq minutes avec toi“ (V. 24 f.), „Et entendre ton rire“ (V. 13, 36, 59), „Te raconter...“ (V. 17, 28, 40, 63) oder „Te parler du bon temps“ (V. 5, 51) und „les Mistral gagnants“ (V. 23, 46, 69, 70). Diese Wiederholungen verdeutlichen den nostalgischen Charakter des Chansons und die Sehnsucht Renauds nach seiner Kindheit. Die Syntax ist einerseits gekennzeichnet durch strukturierte Sätze, die typisch für die schriftliche Sprache sind, wie Gerundivformen („en serrant dans ma main/tes p’tits doigts“, V. 7 f.; „en te bouffant des yeux“, V. 29), konstruierte Relativsätze („Et entendre ton rire/qui lézarde les murs/qui sait surtout guérir/mes blessures“, V. 13 ff.) und andererseits durch wiederholendes Aufzählen mit et, das für die gesprochene, unstrukturierte Sprache typisch ist: „Et les coco-boėrs/et les vrais roudoudous/qui nous coupaient les lčvres/et nous niquaient les dents/et les Mistral gagnants“ (V. 42 ff.). Auch die Formulierung „Te dire que les méchants/c’est pas nous“ (V. 53 f.) soll die gesprochene Sprache abbilden, in der Bezugswort und Verb oft nicht übereinstimmen. Die vereinfachte Verneinung kennzeichnet ebenfalls das franēais parlé.

Die Phonetik des Chansons bleibt sehr nahe an der Norm. Das e muet fällt nur sehr selten, so bei „p’tit“ (V. 8, 31) oder „s’marrer“ (V. 35), der Diphthong in puis wird monophthongiert zu <pi> [pi]. Im Allgemeinen ist die Aussprache allerdings sehr deutlich, viele e muets werden stark betont wie bei „pour la faire rāler“ (V. 33) [purlafEr«rale]. Auffällig ist, dass die liaison stets durchgeführt wird: „Pi donner ą bouffer“ (V. 9) [pid¨nerabufe]; „Te raconter un peu“ (V. 17) [t«rako)teræ)pæ]; „s’envoler aussi haut“ (V. 60) [sa)volerosio] und „Te raconter enfin“ (V. 63) [t«rako)teræ)fE)]. Diese Parallelität von Elementen aus familiärer gesprochener Sprache und Elementen der gehobenen gesprochenen Sprache – wie mir bekannt ist eine typische Eigenschaft des franēais du midi, besonders von Montpellier – trägt dazu bei, dass die nachdenkliche, ernste Seite Renauds in diesem Chanson zum Tragen kommt, während er jedoch in Gedanken mit seiner Tochter spricht.

 

4.5.2 Le sirop de la rue [3]

„Aprčs l’enfance c’est quasiment fini“ (V. 87): Dieser Gedanke ist maßgebend für Renaud im Allgemeinen und für dieses Chanson im Besonderen. Renaud blickt in Le sirop de la rue (von 1994, in: Renaud 1999, 121 ff.) nostalgisch auf seine Kindheit zurück und vergleicht die damalige Situation der Welt mit der heutigen. Detaillierte Kindheitserinnerungen stehen neben negativen Beschreibungen der Gegenwart. Da aber Renaud, wie schon gesagt, niemals erwachsen sein wird, hofft er, dass er den sirop de la rue auch niemals vergessen kann.

 

4.5.2.1 Lexik

Die Beschreibung einer einfachen, glücklichen Kindheit mit ihren „diplōmes d’l’école de la rue“ (V. 7 f.) ruft einige spezielle Erinnerungen wach: Die Haare waren kurz geschoren („La boule ą zéro“, V. 1), die Nase lief („Et la morve au nez“, V. 2) und auf den spitzen Knien war le mercurochrome (V. 5), eine brennende, antiseptische rote Lösung mit 90% Alkoholgehalt (Petit Robert 1994). Renaud wählt diaphasisch und diastratisch das familiäre Register sowie einige Formen aus der Kindersprache. So ist das Adverb pépčre bei „Oł tous nos bateaux/Naviguaient pépčres“ (V 19 f.) eine Lautverdoppelung von pčre, wie sie für den langage enfantin charakteristisch ist (Colin 2001). Das Adjektiv craignos, eine Bildung aus dem Stamm von craindre und dem Argotsuffix –os, das in der Wortbildung bei den Jugendlichen sehr beliebt ist, ist typisch für das franēais branché. Es lassen sich mehrere semantische Felder aufstellen. Für das semantische Feld ‘Kinder‘ findet man im Chanson „les moineaux“ (V. 21), „des millions d’mioches“ (V. 64), „des enfants“ (V. 70) und „tant d’mōmes“ (V. 97). Die metaphorische Bezeichnung moineaux ist laut Pierre Dumont (1998, 174) allerdings veraltet, wodurch der nostalgische Wert des Chansons ausgedrückt wird. Renaud erinnert sich im Chanson an viele alte Kinderspiele, so auch an Kriegsspiele, die mit militärischem Argot-Vokabular dargestellt werden: „le débarquement“ (V. 30), „les GI’s“ (V. 31), „Pistolet ą flčches“ (V. 33), „Carabine en bois“ (V. 34), „un bazooka“ (V. 36), „les vieux blockhaus“ (V. 37) und „notre QG“ (V. 38). Ein weiteres semantisches Feld lässt sich zu der Beschreibung von Kinderspielen aufstellen: „la marelle“ (V. 12), „L’concours de chāteaux/De sable“ (V. 67 f.), „au Club Mickey“

(V. 60). Den schönen Kindheitserinnerungen stellt Renaud das heutige Leben gegenüber. Renaud nimmt den Ausdruck aus Victor Hugos Les Misérables in leicht abgeänderter Form wieder auf: „Évitez d’tomber/Le nez dans l’ruisseau/La gueule sur l’pavé“ (V. 22 ff.) und kritisiert die Verschmutzung der Straße durch „Les capotes usées/Et les vieilles seringues/Et les rats crevés“ (V. 26). Auch das Meer und der Strand sind nach Renaud nicht mehr wie in seiner Kindheit. Früher konnte man in einer Muschel „La mer, l’vent du large“ (V. 48) hören, heute kritisiert er den Lärm der Rallye Paris-Dakar und der Rallye de l’Atlas euphemistisch mit „Symphonie d‘4x4“

(V. 50) und „Le son des tocards“ (V. 53). Die familiäre Bezeichnung tocard, gebildet aus dem Adjektiv toc „mauvais, faux“ und dem pejorativen Suffix –ard, könnte in diesem Kontext mehrdeutig verstanden werden, da sie zum einen eine „personne incapable, sans valeur“ beschreibt, zum anderen aber auch ein „cheval de course qui ne gagne jamais“ (Duneton 1998, 386) sowie einen „sportif sans envergure“ (Colin 2001). Die ‘schlechte Welt‘ von heute kritisiert Renaud durch negative Begriffe für Krankheiten und Umweltverschmutzung: „une marée noire“ (V. 76), „des champignons“ (V. 79), die sich hier auf eine Hautkrankheit beziehen, „des gonocoques“ (V. 80) und „les pesticides/D’un dernier naufrage“ (V. 83 f.). Durch die Verwendung des familiären, aber auch argotischen Vokabulars baut Renaud ein Gefühl der Komplizenschaft mit seiner Generation auf, die die gleiche Kindheit wie Renaud erlebt hat und ähnliche Erinnerungen behält. Viele Begriffe wie zum Beispiel le mercurochrome, der Club Mickey und der Sandburgenwettbewerb des Figaro bleiben für jüngere Generationen ohne Bezug. Im Club Mickey waren alle Abonnenten der Micky-Maus Hefte. Disney war also zu dieser Zeit nicht rein kommerziell: „En c’temps-lą Disney/Faisait pas les poches/Ni les porte-monnaie/Ą des millions d’mioches“ (V. 61 ff.). Auch die Zeitung Le Figaro hat sich im Laufe der Zeit verändert und ist mittlerweile politisch rechts orientiert, weshalb es zunächst verwundert, dass diese Zeitung einen Sandburgenwettbewerb organisierte: „Aujourd’hui c’journal/Est l’ami des enfants/Au Front National/Et au Vatican“ (V. 69 ff.). Die sozio-kulturellen Informationen in diesen bestimmten Ausdrücken machen den Wandel der Zeit und Renauds Nostalgie deutlich.

 

4.5.2.2 Morphosyntax und Phonetik

Das Chanson ist geprägt durch eine „syntaxe ą l’orale“ (Dumont 1998, 178). Verallgemeinernd verwendet Renaud hauptsächlich die Personalpronomen on, nous, je und tu, um seine Kindheit und allgemein die damalige Zeit zu beschreiben. So wendet er sich an seine Generation, die mit ihm in dieser Zeit aufgewachsen ist, gleichzeitig aber auch an die jüngere Generation, die eine andere Kindheit erlebt. Das Personalpronomen tu ist allerdings nicht als direkte Ansprache eines Gesprächspartners zu verstehen, sondern nimmt hier eher eine verallgemeinernde Form ein wie auch on: „Quand tu ramassais/Un gros coquillage“ (V. 45 f.), „Quand t’allais t’baquer/Tu t’buvais peinard“ (V. 73 f.).

Den Kontrast zwischen seiner Kindheit und der heutigen Welt macht Renaud deutlich durch die Gegenüberstellung des imparfait, in dem er über seine Kindheitserlebnisse berichtet, und des présent, das sich auf die aktuelle Situation bezieht. Verstärkt werden die Unterschiede durch die Gegenüberstellung von quand und aujourd’hui: „Quand tu ramassais/Un gros coquillage/Eh ben t’entendais/La mer, l’vent du large/Aujourd’hui t’as qu’une/Symphonie d‘4x4“ (V. 45 ff.). Die Veränderung und Verschlechterung der Zeit wird oft durch Negativkonstruktionen dargestellt wie ne...pas oder ne...que: „En c’temps-lą Disney/Faisait pas les poches/Ni les porte-monnaie“ (V. 61 ff.); „Pas une marée noire“ (V. 76); „Pas des champignons/Ni des gonocoques“ (V. 79 f.); „Pas les pesticides/D’un dernier naufrage“ (V. 83 f.).

Typisch für die gesprochene Sprache ist die Hervorhebung der wichtigsten Satzteile, die an den Anfang gestellt und durch c’est/c’était wiederaufgenommen werden, wobei das Verb nicht an das Subjekt angeglichen werden muss : „Le mercurochrome/Sur nos g’noux pointus/C’était nos diplōmes/D’l’école de la rue“ (V. 5 ff.); „L’été sur les plages/C’tait l’débarquement“ (V. 29 f.); „Et ma canne ą pźche/C’tait un bazooka“

(V. 35 f.). Durch die Wiederholung dieser affektvollen Konstruktion hebt Renaud den nostalgischen Charakter des Chansons hervor.

Die Syntax wird vereinfacht, in dem Maße, wie auch Kinder Sätze vereinfachen und umstrukturieren. Typisch für die Kindersprache sind auch die beiden konstruierten Formen des Verbs mourir, die stark vereinfacht und an das Verb finir angepasst sind: „Pis qu’on mourirait“ (V. 16) und „L’jour oł j’mourirai“ (V. 85). Die Konditionalform on mourirait und die Futurform je mourirai entstehen durch den direkten Anhang der Personalendung an den Stamm des Verbs, der grammatikalisch allerdings in diesen Formen verändert wird zu mourr-, so dass die Formen korrekt on mourrait und je mourrai lauten müssten. Pierre Dumont (1998, 178) bezeichnet Renaud als einen guten Beobachter der Kindersprache. Durch diese bewussten Verstöße gegen die Grammatik kehrt Renaud auch sprachlich in die Kindheit zurück. Christian Schmitt geht allerdings nicht von einer Nachahmung der Kindersprache aus, da Kinder ohne Schwierigkeiten „korrekte Futur- und Konditionalformen“ (Schmitt 2001, 75) bilden können. Ihm zu Folge unterstützen diese Verstöße gegen die Gebrauchsnorm „die mit den Liedern intendierte Provokation“ (Schmitt 2001, 75).

Weitere Kennzeichen der gesprochenen Substandardsprache sind die vereinfachte Verneinung („En c’temps-lą Disney/Faisait pas les poches“, V. 61 f.) und das Auslassen des Subjektpronomens bei il y a: „Y’avait des messages“ (V. 82).

Die Phonetik ist der schnellen, gesprochenen und affektiven Sprache angepasst. Das e muet fällt häufig inmitten eines Wortes oder auch am Wortende, besonders bei einsilbigen Artikeln oder Personalmorphemen: „Sur nos g’noux pointus“ (V. 6); „Le nez dans l’ruisseau/La gueule sur l’pavé“ (V. 23 f.); „Les filles v’naient jamais“

(V. 41); „Pour tout l’mois d’juillet“ (V. 58); „L’concours de chāteaux/De sable que j’gagnais/Aujourd’hui c’journal“ (V. 67 ff.); „Tu ram’nais des coques“ (V. 78). Das [«] fällt allerdings nicht nur in der graphemischen Variante <e>, sondern auch bei <-ai-> wie in faisait: „L’eau des caniveaux/Nous f’sait des rivičres“ (V. 17 f.); „On f’sait notre QG“ (V. 38). Die Aussprache ist weiter noch so weit vereinfacht und verkürzt, dass sogar das [e] stellenweise ausgelassen wird: „C’tait l’débarquement“ (V. 30); „C’tait un bazooka“ (V. 36).

Entsprechend der Substandardsprache wird das Personalpronomen tu vor Vokal verkürzt zu <t‘>: „T’étais les Allemands“ [sic!], (V. 32); „Eh ben t’endendais“ (V. 47); „Ajourd’hui t’as qu’une/Symphonie d‘4x4“ (V. 49 f.); „Quand t’aillais t’baquer“

(V. 73). Der Diphthong [ēi] in puis wird monophthongiert zu <i>: „Pis on ignorait“

(V. 14); „Pis qu’on mourirait“ (V. 16).

Das Relativpronomen qui wird in der gesprochenen Umgangssprache vielfach zu que und vor Vokal verkürzt zu <qu‘>: „Lui qu’a eu tant d’mōmes“ (V. 97).

Renaud wählt das Register des familiären Französisch mit Elementen der Kindersprache, um seine Gefühle und seine Nostalgie zu beschreiben. Die persönliche Nähe, die durch dieses Register des Affekts geschaffen wird, ermöglicht den Zuhörern, sich in Renauds Zeit hineinzuversetzen, beziehungsweise sich ebenfalls an ihre Kindheit zu erinnern.

 



[1] Aus dem Album Mistral gagnant, Virgin 1985.

[2] Diese Stimmung durchzieht das gesamte Album. Schon auf dem Titelbild wird deutlich, dass Renaud eine andere Persönlichkeit verkörpert: Renaud zeigt sich nicht mit Lederjacke und möglichst gefährlich, sondern mit einer Angel in der Hand, während er an seinem Daumen lutscht – eine typische Haltung für Kinder. Das Album wurde 1985 in Los Angeles aufgenommen. Renaud war zu dieser Zeit desillusioniert und verzweifelt (Séchan 1989, 100), müde und erschöpft (auf diesem Album auch das Chanson Fatigué). Somit erklärt sich auch die vermittelte negative Sicht der Welt und der Zeit, sowie die erwünschte Rückkehr in die Kindheit.

[3] Aus dem Album A la belle de Mai, Virgin 1994.

"Caractérisation linguistique des personnages des chansons de Renaud" par Barbara Bungter - Présentation en ligne