4.6 Gesellschaftskritik

Schon zu Beginn seiner Karriere hat Renaud durch seine gesellschaftskritischen Chansons Aufsehen erregt. Sein erstes Chanson Crève salope!, das er während der Studentenproteste im Mai 68 schrieb, attackierte mit argotischem und vulgärem Vokabular die Gesellschaft und traf genau den Ton der Zeit. Während seiner Karriere schrieb Renaud weitere Chansons, mit denen er Frankreich, Politiker, Journalisten, die Kirche, das Militärwesen und den Durchschnittsfranzosen kritisierte, so wie in Hexagone, Dans mon H.L.M., Où c’est qu’j’ai mis mon flingue, Les charognards, L’aquarium und La médaille, um nur wenige Chansons zu nennen. Einige Chansons erregten wahres Aufsehen: so wurde der Radiosender Radio France von der Association de soutien à l’armée française (Asaf) zu einer Geldstrafe von 10 000 FF verklagt, weil der Sender Renauds antimilitaristisches Chanson La Médaille gespielt hatte (in: Libération 24.6.1997, 41).

 

4.6.1 Dans mon H.L.M.[1]

„Dans un de ses ouvrages, le conseilleur du Président écrivait: <Je donnerais des milliers de pages sur la sociologie urbaine contre Mon H.L.M. de Renaud>“, zitiert Thierry Séchan (1989, 99). Renaud beschreibt in diesem Chanson ( von 1980, in: Renaud 1988, 148 ff.) die Bewohner der acht Stockwerke einer Habitation à Loyer Modéré in der Pariser Vorstadt und schafft so eine Art ’Mini-Gesellschaft‘, in der verschiedene Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammenwohnen. Dabei entsprechen die verschiedenen Etagen den Schichten der französischen Gesellschaft (Schmitt 1996, 375). „Il brosse un véritable tableau de la stratification sociale et des systèmes de valeurs en conflit“ (Schmitt 1996, 179).

Nach Claude Duneton (1988, 10) ist das Chanson Histoire de ma maison des Sängers

Landragin von 1880 Vorbild für Renauds H.L.M. Im gleichen Stil beschreibt auch Landragin von Etage zu Etage die verschiedenen Hausbewohner, allerdings hat sein Haus nur sechs Etagen. Auch Honoré de Balzac beschreibt in der Revue comique des 1. Januar 1845 fünf Etagen eines Pariser Hauses, die den fünf Schichten der Pariser Welt nach Ansicht des Autors entsprechen (nach Schmitt 1996, 378).

 

4.6.1.1 Lexik

Renaud charakterisiert die einzelnen Hausbewohner durch ihre Handlungen, durch ihre speziellen Accessoires und durch die Sprache. Die Sprache nimmt also „fonctions de variétés dites diastratiques“ (Schmitt 1996, 375) ein.

Das Chanson baut auf den unterschiedlichen Lebensarten von Renaud selbst und den anderen Hausbewohnern („ces braves gens“, V. 105) auf. Die sozialen Gruppen werden nach Standardvorstellungen und Klischees überzogen beschrieben und durch ihre Haltung zu Geld, Politik und Kindern charakterisiert (Schmitt 1996, 379).

Den barbouze im Erdgeschoss beschreibt Renaud mit sehr pejorativem Vokabular. Schon die Bezeichnung „y’a une espèce de barbouze“ (V. 2) macht Renauds Ablehnung deutlich, denn une espèce de verstärkt nach dem Petit Robert 1979 eine „qualification péjorative“. Barbouze ist im Petit Robert 1979 als populaire markiert in der Bedeutung „agent secret, police, espionnage“, was seiner Haupttätigkeit entspricht: „qui surveille les entrées/qui tire sur tout c’qui bouge/surtout si c’est bronzé“ (V. 3 ff.). Renaud beschreibt ihn also als fanatischen und rassistischen Militaristen, denn tout c’qui bouge und surtout si c’est bronzé bezieht sich auf Menschen mit dunkler Hautfarbe, in diesem Milieu wahrscheinlich auf Araber und Einwanderer aus Nordafrika (Schmitt 1996, 382). Hinzu kommt, dass er „les mômes qui chouravent/le pinard aux bourgeois“ (V. 7 f.) verfolgt, für Renaud als Freund der Kinder und Feind der bourgeois ein Skandal. Das Verb chouraver als „voler, dérober“ (Colin 2001) ist noch nicht im Petit Robert 1979 verzeichnet, es handelt sich also um ein Wort aus dem Argot, das nach Claude Duneton (1998, 564) „très employé par les jeunes“ in den 70er Jahren ist.

Es lässt sich ein semantisches Feld zu den Bereichen Militär, Waffen und Gewalt zusammenstellen, die den barbouze eindeutig als Hüter der Ordnung charakterisieren: barbouze, tirer sur tout c’qui bouge, die Beretta als Schusswaffe, das Verb traquer qqn. im Sinne von poursuivre qqn., l’Indochine ( als Erinnerung an den Krieg), das Verb cogner (der Petit Robert stuft es als populaire ein mit der Bedeutung „frapper sur, heurter, battre“).

Die Aussage „que même dans la Légion/z’ont fini par le j’ter“ (V. 15 f.) verstärkt noch Renauds negative Beschreibung, da nach dem allgemeinen Vorurteil die légion keinen entlässt (Schmitt 1996, 382). Renaud beschimpft den barbouze deutlich mit dem metaphorisch verwendeten argotischen Adjektiv givré in der Bedeutung von „ivre, fou“ („Il est tellement givré“, V. 14) und dem noch als vulgaire markierten Adjektiv con „imbécile, idiot“: „c’est vous dire s’il est con“ (V. 17). Das Leben des barbouze wertet Renaud ab als „p’tite vie d’peigne-cul“ (V. 11). Die Bezeichnung peigne-cul ist im Petit Robert 1979 als populaire et péjoratif markiert mit der Bedeutung „homme mesquin“ oder nach Colin 2001 als „individu méprisable, grossier, incapable“. Durch argotisches und populäres Vokabular baut Renaud eine ablehnende Haltung auf.

In der ersten Etage der H.L.M. wohnt „l’jeune cadre dynamique“ (V. 20), der sich aber in der weiteren Beschreibung als nicht mehr jeune und nicht sehr dynamique herausstellt: schon seit zwanzig Jahren bezahlt er seine Wohnung ab und, obwohl „y parle de s’casser“ (V. 28) kann er das Haus nicht verlassen, weil er noch Rechnungen für seinen Fernseher, seine Spülmaschine und die Katzenstreu bezahlen muss. Diese ironische Charakterisierung, die auf den Gegensätzen der Person aufbaut, wird verstärkt durch die Bezeichnung „c’bon contribuable centriste“ (V. 34). Verwunderlich scheint auch die Tatsache, dass dieser Mann sich zwar teuer kleidet mit „costard en alpaga“ (costard ist die populäre Bezeichnung für „costume d’homme“), aber trotzdem in einer H.L.M. wohnt. Zumal er für seine „deux-pièces-plus-loggia“ (V. 24), eine Bezeichnung aus der Kleinanzeigensprache (Schmitt 1996, 380), vingt briques

(V. 23) bezahlt hat. Briques ist der argotische Ausdruck für die Summe von einer Million anciens francs, so dass vingt briques einer Summe von umgerechnet 200 000 francs entspricht (Duneton 1998, 71). Die Lächerlichkeit dieses Kaufs verdeutlicht Renaud durch „Il en a chié vingt ans“ (V. 25). Der Petit Robert 2001 markiert den Ausdruck als vulgaire, mittlerweile ist dieser aber mit der Bedeutung „subir une situation pénible, très désagréable“ (Colin 2001) in das familiäre Register aufgestiegen (Duneton 1998, 417). Der Bewohner ist also um den äußeren Anschein bemüht und versucht seine Armut zu verstecken. Wie auch bei der Charakterisierung des barbouze kritisiert Renaud auch hier: „il aime pas les enfants“ (V. 35) und schließt „c’est vous dire s’il est triste“ (V. 36).

In der zweiten Etage wohnt eine „bande d’allumés“ (V. 40), die Renaud als relativ positiv darstellt beziehungsweise mit einer „indulgence amusée“ (Séchan 1989, 62) beschreibt. Sie bevorzugen das Leben in der Gemeinschaft („qui vivent à six ou huit“, V. 41) auf 60 Quadratmetern mit den „mat’las par terre“ (V. 49). Diese Alt-68er sind den ganzen Tag aktiv (die argotische Bezeichnung von allumé ist „excité, sur le plan nerveux ou sexuel“, Colin 2001, mit einem Zitat der entsprechenden Textstelle aus Dans mon H.L.M.), „y’a tout l’temps d’la musique“ (V. 43) und „Y vivent comme ça, relax/y’a des mat’las par terre“ (V. 48 f.). Das Adjektiv relax ist ein Anglizismus mit der Bedeutung „détendu“, ebenso wie das Adjektiv cool („c’est vous dire s’y sont cools!“, V. 55), mit dem Renaud diese Bewohner beschreibt. Durch diese Anglizismen, durch die apokopierte Form instit‘ (V. 46) und populäres oder argotisches Vokabular (furax, boucan d’enfer, débouler) charakterisiert Renaud diese Hausbewohner als jung gebliebene, aber wirklichkeitsfremde Menschen, die nicht integriert leben: „Y’en a un qu’est chômeur“ (V. 45); „Ils payent jamais leur loyer“ (V. 52); „Quand les huissiers déboulent, /ils écrivent à Libé“ (V. 53 f.). Der Verweis auf die linkspolitische Tageszeitung Libé präzisiert die politischen Vorstellungen der Alt-68er (Schmitt 1996, 383).

In der dritten Etage „y’a l’espèce de connasse“ (V. 59). Durch vulgäres und argotisches Vokabular wie connasse als „femme stupide“ (Colin 2001), gonzesse (1979 noch vom Petit Robert als vulgaire markiert, heute als familier) oder das metaphorisch gebrauchte Verb allumer als „aguicher, provoquer sexuellement“ (Colin 2001) vermittelt Renaud eindeutig einen negativen Eindruck. Er charakterisiert die Frau durch ihr Markenbewusstsein, was allein schon durch die Tatsache hervorgehoben wird, dass sie „dans la pub‘“ (V. 60) arbeitet. Zwei Mal im Jahr fährt sie in teure snobistische Urlaubclubs („l’hiver à Avoriaz/le mois d’juillet au Club“,

V. 61 f.), sie fährt einen „Mini-Cooper“ (V. 64), das Auto der selbstbewussten Frau in den 70er und 80er Jahren (Schmitt 1996, 381), und Renaud verallgemeinert diese Eigenschaften mit „comme toutes les décolorées“ (V. 63). Auch ihr Hund ist natürlich eine Moderasse: „quand elle sort son cocker“ (V. 66). Renaud stellt sie als engagierte Feministin dar („Aux manifs de gonzesses/elle est au premier rang“, V. 67 f.), die allerdings aus ästhetischen Gründen (Schmitt 1996, 381) keine Kinder möchte, „parc’que ça fait vieillir/ça ramollit les fesses/et pi ça fout des rides“ (V. 70 ff.). Ironisch bemerkt er schließlich „elle l’a lu dans l’Express/c’est vous dire si elle lit!“

(V. 73 f.), da er sie als so oberflächlich darstellt, dass es verwundern muss, dass sie liest, sei es auch nur eine anspruchslose Wochenzeitschrift.

Der Bewohner der vierten Etage wird durch seine politischen Ansichten charakterisiert: „y’a celui qu’les voisins/appellent <le communiste>“ (V. 78 f.), er selbst bezeichnet sich allerdings lieber als trotskiste (V. 81). Er gilt im Haus als Politikfanatiker, der kein anderes Gesprächsthema kennt: „J’ai jamais bien pigé/la différence profonde/y pourrait m’expliquer/mais ça prendrait des plombes“ (V. 82 ff.) gibt Renaud zu bedenken. Auch wird der ’Politiker‘ seit seiner Petition für Chile bei jedem neuen Graffiti im Hausflur verdächtigt, er gilt also als aktivistisch und radikal.

Ironisch gibt Renaud dann aber zu, dass das vulgärsprachliche Graffiti „Mort aux cons“ (V. 90), das nicht politisch motiviert ist, sondern das sich gegen die Hausbewohner selber richtet, von ihm stammt.

Seine Unzufriedenheit drückt Renaud jeweils im Refrain aus: „Putain, c’qu’il est blême, mon H.L.M.!“. Der Ausruf putain! wird vom Petit Robert 1979 noch als vulgaire eingestuft, während das Adjektiv blême als péjoratif für pâle markiert ist.

Weitere gegensätzliche Personen wohnen in dem Haus, wie „un nouveau romantique/un ancien combattant/un loubard, et un flic“ (V. 97 ff.). Die einzige Person, die namentlich und affektiv genannt wird, ist „la môme du huitième“, Germaine. Sie wird im Gegensatz zu den anderen Hausbewohnern als kinderlieb beschrieben („un monde rempli d’enfants“, V. 109) und im Refrain mit einem Wortspiel, das auf phonetischer Assonanz beruht: „Putain c’qu’il est blême, mon H.L.M.!/Et la môme du huitième, le hasch, elle aime!“.

Renaud karikiert und kritisiert die Gesellschaft durch die übertriebene und verallgemeinernde Darstellung der Hausbewohner. Dabei verwendet er überwiegend Vokabular aus dem Substandard (français populaire, vulgaire und Argot) sowie Wörter, die insbesondere Anfang der 80er Jahre in Mode waren, wie jogging, loubard, manif‘ (Schmitt 1996, 383). Durch dieses Vokabular schafft Renaud einen Kontrast zur Neutralität des Standards, da diese nicht affektiert ist (Schmitt 1996, 384). Die Wahl des français vulgaire oder populaire ist wohl bedacht und beabsichtigt, einerseits, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, andererseits aber auch, um sprachlich die verschiedenen Personen darzustellen.

 

4.6.1.2 Morphosyntax und Phonetik

Die Beschreibung des Hauses und seiner Bewohner folgt einem strengen System. Die sechs Strophen beginnen jeweils mit der Lokalisierung der folgenden Beschreibung durch die Angabe der Etage („Au rez-de-chaussée, dans mon H.L.M.“, V. 1; „Au premier, dans mon H.L.M.“, V. 20; „Au deuzième, dans mon H.L.M.“, V. 39 etc.). Es folgt darauf eine vage und distanzierte Vorstellung der Bewohner durch y a und eine Präzisierung durch einen Relativsatz: „y’a une espèce de barbouze/qui surveille les entrées“, V. 2 f.; „y’a l’jeune cadre dynamique/c’lui qu’a payé vingt briques“, V. 21, 23; „y’a une bande d’allumés/qui vivent à six ou huit“, V. 40 f.; „y’a l’espèce de connasse/celle qui bosse dans la pub‘ “, V. 59 f. etc.

Renaud hält durch die unpersönliche, pejorative Aufzählung der verschiedenen Typen bewusst Abstand. Das verdeutlicht auch die Verwendung der Demonstrativpronomina ça und c’est, um Personen zu bezeichnen (Schmitt 1996, 385).

Da es sich in den einzelnen Strophen hauptsächlich um die Beschreibung der Bewohner handelt, sind die Personalpronomen il, elle und ils sehr häufig. Erst gegen Ende des Chansons bringt sich Renaud selbst ein durch das Personalpronomen je: „J’ai jamais bien pigé/la différence profonde“ (V. 82 f.), „c’est moi qui l’ai marqué/c’est vous dire si j’ai raison“ (V. 92 f.) und „Quand j’en ai marre d’ces braves gens/j’fais un saut au huitième“ (V. 105 f.). Germaine nimmt eine besondere Position ein, so dass durch das Personalpronomen on die Verbundenheit zwischen ihr und Renaud ausgedrückt wird: „on s’quitte en y croyant/c’est vous dire si on rêve!“

(V. 111 f.).

Die syntaktische Struktur der Sätze ist typisch für die gesprochene Substandard-sprache: so ist die Verneinung vereinfacht („Sa femme sort pas d’la cuisine“, V. 12; „Toute façon, y peut pas“, V. 29; „il aime pas les enfants“, V. 35; „Ils payent jamais leur loyer“, V. 52 etc.). Das Personalmorphem fällt im Ausdruck il y a, so dass im Text nur <y’a> vorkommt. Die Personalpronomen treten in verschiedenen phonetischen Varianten auf: vor Konsonant wird il zu <y> („sinon y cogne dessus“, V. 13; „mais y parle de s’casser“, V. 28), ils wird zu <z‘> vor Vokal („z’ont fini par le j’ter“, V: 16) oder zu <y> vor Konsonant („c’est vous dire s’y sont cools!“, V. 55). Durch Füllwörter wie naturellement, surtout und tellement wird der Effekt der gesprochenen emotionalen Sprache noch verstärkt.

In seiner Beschreibung baut Renaud eine gewisse Distanz zwischen sich und den anderen Hausbewohnern auf, Germaine ausgenommen. Seinen Spott und seine Abneigung drückt er durch unpersönliche Beschreibungen aus wie une espèce de, une bande de, y’a celui qui, pi y’a aussi etc. Dabei baut er eine Komplizenschaft mit seinem Publikum auf, indem er es mit der Exklamation „c’est vous dire si...!“ direkt anspricht und so zum Zeugen seiner Schilderung macht (Schmitt 1996, 383). Diese Komplizenschaft setzt allerdings einen Konsens über die Sicht der Gesellschaft voraus sowie ein gemeinsames Wissen um die Klischees und Vorurteile, nach denen die Hausbewohner verallgemeinernd beschrieben werden (Schmitt 1996, 383).

Seine Missbilligung und seinen Spott drückt Renaud auch durch bewusst unlogische Zusammenhänge aus: beschreibt er zunächst den Bewohner der zweiten Etage als „jeune cadre dynamique“ (V. 21), so stellt sich im Verlauf der Strophe heraus, dass dieser genau das Gegenteil dieser Beschreibung ist (Schmitt 1996, 385).

Auch die Beschreibung der Alt-68er fällt aus dem syntaktisch logischen Rahmen und wirkt so humorvoll: in der Aufzählung der Beschäftigungen „y’en a un qu’est chômeur/y’en a une qu’est instit‘/y’en a une, c’est ma sœur“ (V. 45 ff.) erwartet man wegen der parallelen Struktur des Satzes statt der Schwester eine weitere Berufsbezeichnung.

Durch die Nachahmung der gesprochenen Sprache und durch die oben genannten spöttischen und humoristischen Elemente hebt Renaud sich und sein Publikum von dieser Gesellschaft, die er kritisiert, ab.

Auch im Bereich der Phonetik bleibt Renaud auf der Ebene der gesprochenen Substandardsprache. Dabei fällt das e muet gemäßigt am Wortende sowie im Wortinneren („maint’nant il est content“, V. 27; „y’a des mat’las par terre“, V. 49; „qui tire sur tout c’qui bouge“, V. 4; „parc’que ça fait vieillir“, V. 70). Das Relativpronomen qui wird vor Vokal verkürzt zu <qu‘>, so dass es sich an das Relativpronomen que angleicht: „y’en a un qu’est chômeur/y’en a une qu’est instit‘ “ (V. 45 f.). Die Aussprache wird der gedrängten, gesprochenen Sprache angepasst und vereinfacht, so dass der Eindruck einer persönlichen, spontanen Erzählung im Affekt entsteht.

 

4.6.2 Où c’est qu’j’ai mis mon flingue? [2]

Auf seiner Tournee durch Frankreich 1995 kündigt Renaud dieses Chanson (von 1980, in: Renaud 1988, 145 ff.) folgendermaßen an: „Eh ben, celle-là, je crois le jour où je l’ai écrit [sic] j’étais franchement énervé par la colère!“ (aus dem Album Paris-Provinces, CD 2, Virgin 1995). Damit ist die Grundstimmung des Chansons treffend beschrieben. Das Chanson ist eine aggressive Polemik und eine radikale Revolte (Erwan 1982, 46) gegen moralische Werte und gesellschaftliche Institutionen, gegen Frankreich, gegen die Journalisten und gegen die Politik. In diesem „bréviaire de la haine“ (Séchan 1989, 64) wird nichts und niemand verschont. „Avec Où c’est qu’j’ai mis mon flingue?, Renaud allait plus loin qu’il n’était jamais allé, plus loin qu’il n’irait jamais. D’une violence paroxystique, cette chanson aurait dû être interdite“ (Séchan 1989, 63).

 

 

 

4.6.2.1 Lexik

Wie der Inhalt der Chansons, so auch das Vokabular: aggressive Wörter aus dem français populaire oder vulgaire und dem Argot, Schimpfwörter und überraschende Wortspiele machen das Publikum hellhörig. Die erste Strophe beginnt noch recht harmlos, kündigt aber dennoch die Wut des Sängers durch ein Wortspiel, das auf phonetischer Assonanz beruht, an: statt der zu erwartenden Formulierung à qui que ce soit que je m’adresse singt Renaud „A qui qu‘ce soit que je m’agresse“ (V. 3). Das Verb s’agresser à qqn. ist nicht im Petit Robert (1979, 2001) verzeichnet, allein die transitive Form des Verbs agresser ist aufgeführt. Es handelt sich also um eine bewusste Verwendung des Dativus ethicus, der im Südfranzösischen häufigere Verwendung als im Norden findet, um schon in den ersten Zeilen durch den Ausdruck von Emotion von der Norm abzuweichen und aufzufallen. Der poetischen Beschreibung im ersten Vers („J’veux qu’mes chansons soient des caresses“) wird der populäre Ausdruck „ou bien des poings dans la gueule“ (V. 2) entgegengesetzt. Renaud spricht seine Zuhörer gezielt an, hauptsächlich durch Beschimpfungen. Hierzu lässt sich ein großes semantisches Feld aufstellen: les pousse-mégots, les nez-d’bœux, les ringards, les folkeux, les journaleux, pauv’mecs endoctrinés, p’tits bourgeois incurables, ces blaireaux, les connards. Einige Schimpfwörter hat Renaud selbst erfunden, so pousse-mégots, eine Komposition nach dem Vorbild von pousse-café, das „un petit verre d’alcool que l’on prend après le café“ (Petit Robert 1979) bezeichnet. Mégot ist die populäre Bezeichnung für „le bout de cigare ou cigarette qu’on a fini de fumer“. Aus dieser Bedeutung ergibt sich der Sinn der Komposition, nämlich die Assoziation „bon à rien“ (Colin 2001). Die Beschimpfung nez-d’bœux, ebenfalls eine Komposition von Renaud, ist ein pejorativer Vergleich mit dem Tier bœuf, das im Argot auch den officier oder einen „ouvrier tailleur ou cordonnier“ (Colin 2001) bezeichnet. Dabei weicht Renaud graphemisch von der Norm bœufs ab, phonetisch jedoch entsprechen sich die beiden Formen [bO]. Die Beschimpfung folkeux, ebenfalls eine Neuschöpfung Renauds (Colin 2001), richtet sich an die „joueur de musique folk, chanteur de folk-songs“ (Colin 2001). Die Journalisten werden pejorativ mit „les journaleux“ (V. 7) angesprochen, ein Suffixwechsel bei journaliste mit dem pejorativen Suffix -eux.

Neben der verbalen Gewalt steht die physische Gewalt: es lässt sich ein semantisches Feld zur Bezeichnung von Waffen oder als Waffen verwendete Gegenstände zusammenstellen: mon flingue, mes seringues, mon canif, un nunchak‘, un cocktail, des fusils, des pavés, des grenades. Dabei handelt es sich im Falle von flingue und seringues um Bezeichnungen für „fusil, arme à feu“ aus dem français populaire und dem Argot, wobei seringues metaphorisch verwendet wird. Un nunchak‘ bezeichnet eine bestimmte japanische Schlagwaffe, mit un cocktail ist der cocktail Molotov gemeint als „bouteille emplie d’un mélange imflammable, employé comme explosif“ (Petit Robert 1979). Seine ganze Abneigung gegen die Gesellschaft und ihre Institutionen drückt Renaud mit negativem und vulgärem Vokabular aus wie gerber, crever, dégueulasse, dégueuler, gueuler und tringler.

Mit einem Bezug auf den französischen Schriftsteller Louis Aragon hebt Renaud seine Grundhaltung hervor: „J’declare pas, avec Aragon/qu’le poète a toujours raison/La femme est l’avenir des cons/et l’homme est l’avenir de rien“ (V. 14 ff.). Diese Verse sind eine Abwandlung der Verse Aragons, die Jean Ferrat musikalisch umgesetzt hat in La femme est l’avenir de l’homme (Lefèvre 1985, 70): „Le poète a toujours raison/Qui voit plus haut que l’horizon/Et le futur est son royaume/Face à notre génération/Je déclare avec Aragon/La femme est l’avenir de l’homme“ (Anhang S. 31). Renaud lässt sich nicht als démago (V. 25) in den torchons (V. 26) bezeichnen. Die Bezeichnung torchon für Zeitungen als „écrit sans valeur, texte très mal présenté“ (Petit Robert 1979) vermittelt direkt Renauds Haltung, und er fügt hinzu „Tous ces p’tit-bourgeois incurables/qui parlent pas, qu’écrivent pas, qui bavent/qui vivront vieux leur vie d’minables“ (V. 28 ff.). Das Verb baver wird hier metaphorisch verwendet, um negativ „parler, dire“ auszudrücken.

Renaud will sich von nichts und niemand aufhalten oder von seinem Weg abbringen lassen („qui me feront virer de bord/qui me feront fermer ma gueule“, V. 36 f.), auch nicht von einer „disque d’or“ (V. 34) oder einem Auftritt im Olympia. So verdeutlicht er auch seine persönliche Einstellung gegen die kommerzielle Musikbranche wie auch in seinem Chanson Allongés sous les vagues (aus dem Album Putain de camion, Virgin 1988).

Renauds Einstellung zum Rechtswesen und zu den gesellschaftliche Institutionen wird deutlich in „le bleu marine me fait gerber“ (V. 46) und „j’aime pas le travail, la justice et l’armée“ (V. 47). Le bleu marine bezeichnet in diesem Fall die Uniform der französischen Polizisten. Mit „C’est pas d’main qu’on m’verra marcher/avec les connards qui vont aux urnes/choisir c’lui qui les f’ra crever/moi, ces jours-là , j’reste dans ma turne“ (V. 48 ff.) macht Renaud seine Abneigung zur Wahl deutlich. Das Vokabular ist sehr negativ (das Verb crever ist, auf den Menschen bezogen, ein Wort aus dem français populaire) und verstärkt somit Renauds abneigende Haltung. Auffällig ist auch wieder ein Wortspiel, das auf phonetischer Assonanz beruht: „Rien à foutre de la lutte des crasses/tous les systèmes sont dégueulasses!“. Die gängige, zu erwartende Formulierung la lutte des classes formuliert Renaud um zu lutte des crasses, wobei crasses „mauvais tour, traîtrise“ (Colin 2001) bedeutet.

Offen greift Renaud Frankreich und seine Symbole an. Mit „La Marseillaise, même en reggae“ (V. 61) bezieht er sich auf eine Fassung der französischen Nationalhymne im Reggae-Stil, die Serge Gainsbourg 1979 gesungen hat (Brierre 1997, 151). Dennoch: „ça m’a toujours fait dégueuler“. Der Ausruf „et votr‘ République, moi j’la tringle“

(V. 64) drückt Renauds tiefste Verachtung gegen den Staat aus. Das Verb tringler mit der Bedeutung „posséder sexuellement“ stuft der Petit Robert 1979 als vulgaire ein.

Nach der ausführlichen Darstellung seiner Meinung und Haltung gegenüber den Journalisten, dem Staat und dem Militär geht Renaud in den letzten Strophen noch einen Schritt weiter, indem er zur Gewalt gegen Polizei und Staat aufruft: „j’fous plus les pieds dans une manif/sans un nunchak‘ ou un cocktail/[...]/plus de slogans face aux flicards/mais des fusils, des pavés, des grenades!“ (V. 68 ff.).

In abgewandelter Form greift Renaud die Verse Victor Hugos am Ende der Les Misérables wieder auf: „Si un jour j’me r’trouve la gueule par terre/sûr qu‘ça s’ra la faute à Baader./Si j’crève le nez dans le ruisseau/sûr qu‘ça s’ra la faute à Bonnot“

(V. 79 ff.). Damit bezieht er sich auf den Terroristen Andreas Baader, Mitglied der RAF, und auf den französischen Verbrecher Jules Bonnot.

Sich selbst beschreibt Renaud ebenfalls mit populärem Vokabular, er hält sich gerne in schmutzigen Bereichen auf, die von der Gesellschaft verachtet werden: „Moi, mon av’nir est sur le zinc/d’un bistrot des plus cradingues“, V. 19; die Bezeichnung turne in „Moi, ces jours-là , j’reste dans ma turne“ (V. 51) bezieht sich auf ein Zimmer „sale et sans comfort“ (Petit Robert 1979), er flucht („mais bordel!“) und fällt häufig in das vulgäre Register. Seine, eigentlich untypische, Gewaltbereitschaft wird durch das aggressive Vokabular deutlich, ebenso durch die sich wiederholende Frage „Où c’est qu’j’ai mis mon flingue?“ (V. 20, 40, 65).

Wie eine Warnung wirken die letzten Zeilen des Chansons, die Renaud als noch friedlich, aber jederzeit bereit zur Gewalt darstellen: „Pour l’instant, ma gueule est sur le zinc/d’un bistrot des plus cradingues/MAIS FAITES GAFFE! J’AI MIS LA MAIN SUR MON FLINGUE!“ (V. 83 ff.).

 

 

 

4.6.2.2 Morphosyntax und Phonetik

Obwohl Renaud in diesem Chanson vornehmlich in der ersten Person Singular bleibt (je, moi, me), sich selbst sogar in den Text namentlich einbringt („<Renaud c’est mort, il est récupéré>“, V. 27), entspricht nicht alles Renauds Einstellungen. Dennoch vermittelt Renaud die beschriebenen Meinungen als seine eigenen. Durch die Verwendung des Personalmorphems moi verstärkt Renaud diesen Aspekt und hebt sich so deutlich von den anderen Personen ab, die er im Chanson anspricht und angreift: „Moi, mon av’nir est sur le zinc“ (V. 18); „Moi j’crache dedans, et j’crie bien haut“ (V. 45); „Moi, ces jours-là, j’reste dans ma turne“ (V. 51).

Mit Imperativformen und Appelativa spricht Renaud gezielte Personengruppen an: „Alors, écoutez-moi un peu/les pousse-mégots et les nez-d’bœux“ (V. 5 f.); „vous m’avez un peu trop gonflé“ (V. 11) und „Mais faites gaffe!“ (V. 85).

Der gesprochenen Substandardsprache entsprechend ist die Verneinung vereinfacht („J’suis pas chanteur pour mes copains“, V. 12) und es fehlt das Personalmorphem bei il y a („Y’a même les flics qui me saluent“, V. 43). Affektiv hebt Renaud durch dislocation und présentatifs bestimmte Satzteile hervor: „C’est sûrement pas un disque d’or/ou un Olympia pour moi tout seul/qui me feront virer de bord“ (V. 34 ff.); „C’est pas d’main qu’on me verra marcher“ (V. 48).

Spontan wirkt die Sprache durch den sich wiederholenden Fluch „mais bordel! où c’est qu’j’ai mis mon flingue?“.

Auch die Phonetik entspricht der gesprochenen Substandardsprache, insbesondere dem français populaire. Das e muet fällt sehr häufig bei einsilbigen Artikeln oder Pronomen sowie inmitten eines Wortes. Dabei ergibt sich eine phonetische Verschleifung des Personalpronomens je <j‘> mit dem folgenden Konsonanten: <j’suis> [i], <j’déclare> [Sdeklar], <j’peux> [SpO]. Stark verkürzt wird die Konjunktion toute façon zu <t’t’façon>.

Die Aussprache ist aber nicht nur ein Hinweis auf Substandardsprache, sondern verstärkt die Vehemenz der Angriffe Renauds auf die Gesellschaft. Besonders auffällig ist hier die Aussprache des /h/ bei haine in „Tant qu’y aura d’la haine dans mes s’ringues“ (V. 34): [hEn]. Durch diese Abweichung von der Norm [‘En] wird die Semantik noch verstärkt.

 

 

 

4.6.3 Déserteur[3]

1958 schrieb Boris Vian ein Chanson über den siebeneinhalbjährigen Krieg Algeriens gegen Frankreich: Le Déserteur (Anhang S. 29). 1983 griff Renaud Struktur und Inhalt dieses Chansons in abgewandelter Form wieder auf und schrieb seinen Chanson Déserteur (ij Renaud 1988, 200 ff.). Auch wenn die Grundaussage und die Konzeption der Chansons gleich sind, unterscheiden sich die beiden Texte enorm, besonders in sprachlicher Hinsicht. Während Boris Vian einen höflichen Brief im Standard-französisch formuliert, nimmt Renaud kein Blatt vor den Mund, und Thierry Séchan (1989, 95) bemerkt: „Évidemment, Boris Vian était plus poli.“ Während sich der Protagonist in Vians Chanson realistisch der Macht des Präsidenten ausliefert („Si vous me poursuivez prévenez vos gendarmes/Qu’j’n’aurai pas d’armes et qu’ils pourront tirer“), scheint Renauds Version eine soziale Utopie zu sein (Terrasse 1996, 215), spöttisch geschrieben aus der Sicht eines écolo. Régis Lefèvre charakterisiert das Chanson eher als „un message antimilitariste qu’une véritable chanson politisée“ (Lefèvre 1985, 53).

 

4.6.3.1 Lexik

Schon in den ersten Zeilen weicht Renaud lexikalisch von der Vorlage Vians ab: aus Vians „Monsieur le Président/Je vous fais une lettre/Que vous lirez peut-être/Si vous avez le temps“ wird bei Renaud „Monsieur le Président/Je vous fais une bafouille/Que vous lirez sûrement/Si vous avez les couilles“ (V. 1 ff.). Die argotische, mittlerweile familiäre Bezeichnung bafouille statt lettre zu Beginn des Chansons kündigt schon Renauds Haltung an, denn dieses Lexem „sert à briser le caractère solennel et intimidant du mot lettre“ (nach Claude Duneton, 1998, 319). Der Ausdruck si vous avez des couilles im Sinne von être viril, courageux ist im Petit Robert 1979 und 1994 als vulgaire markiert. Renaud begegnet also dem Präsidenten mit einer offensichtlichen Respektlosigkeit. Im familiären bis populären Register beschreibt Renaud seine Situation: er hat einen Anruf von seinen vieux (V. 6) bekommen, „Pour m’prév’nir qu’les gendarmes/S’étaient pointés chez eux“ (V. 7 f.). Sein Vater, l’vieil anar‘ (V. 16) „les a vraiment dans l’nez“ (V. 13). Dieser Ausdruck mit der Bedeutung „détester“ ist im Petit Robert 1979 noch als populaire markiert, im Petit Robert 1994 allerdings schon als familier, und Claude Duneton (1998, 173) merkt an: „registre légèrement plus vulgaire“. Renaud drückt seinen Missmut gegenüber der Armee durch Beschimpfungen im familiären und argotischen Register aus: „c’est con“

(V. 20), „ton armée de glands/de ton troupeau de branleurs“ (V. 37 f.), „faire le con“ (V. 44), „dans une caserne infâme/Avec des plus cons qu’moi“ (V. 45 f.), „Y sont nuls, y sont moches/Et pi, y sont teigneux“ (V. 56 f.). Die Bezeichnung gland mit der übertragenen pejorativen Bedeutung „imbécile“ ist noch nicht im Petit Robert 1979 verzeichnet, wird aber im Petit Robert 1994 als familier eingestuft. Zur Entstehungs-zeit des Chansons dürfte der Ausdruck also noch argotisch gewesen sein. Die heute als familier eingestufte Beschimpfung branleur als „individu peu sérieux, sur qui on ne peut pas compter“ (Duneton 1998, 352) wird im Petit Robert 1979 noch nicht aufgeführt. Renaud zählt im Folgenden auf, was ihm an der Armee nicht gefällt: „J’aime pas recevoir des ordres/J’aime pas me lever tôt/J’aime pas étrangler l’borgne/Plus souvent qu’il ne faut“ (V. 47 ff.). Der argotische Ausdruck étrangler le borgne in der Bedeutung „se masturber“ ist eine Neuschöpfung Renauds (Colin 2001), die auf der übertragenen Verwendung von borgne basiert als „allusion au méat urinaire, <œil unique>“ (Colin 2001).

Sich selbst beschreibt Renaud als einen écolo („Je n’suis qu’un militant/Du parti des oiseaux/Des baleines, des enfants/De la terre et de l’eau“, V. 81 ff.), der in der Ardèche mit seinen potes Ziegen züchtet und ein friedliches Leben führt. Nach Marc Terrasse (1996, 215) scheint Renaud sich in diesem Chanson gleichzeitig über die baba-cools-écolos lustig zu machen, die er schon in früheren Liedern wie Amoureux de Paname (1975) oder Marche à l’ombre (1980) angegriffen hat. Bei der Beschreibung seines Lebens als écolo bleibt Renaud im familiären Register (1979 noch populaire) wie des potes, marrants, se crever. Auch die Bezeichnung écolo als apokopierte Form von écologiste ist typisch für das familiäre Französisch. Absichtlich ungenau deutet Renaud nur an, was er auf den drei Hektar großen Plantagen anbaut: „Une herbe qui nous rend moins con/Non, c’est pas du Ricard“ (V. 32 f.). Hierbei spielt er mit der speziellen Bedeutung von herbe als haschisch.

Der Deserteur kommt also zum Schluß: „Alors, me gonfle pas“ (V. 69). Der Ausdruck gonfler qqn. im Sinne von mettre qqn. en colère ist im Petit Robert 1994 als locution vulgaire eingestuft. Renaud drückt also auf diese Art seine Missachtung der Position des Präsidenten aus, indem er mit ihm in einem Register spricht, das aus diaphasischer Sicht nicht angemessen ist. Etwas gehobener, aber dennoch im familiären Register, fügt er hinzu „T’a plus qu’a pas t’en faire/Et construire tranquillos/Tes centrales nucléaires/Tes sous-marins craignos“ (V. 73 ff.). Die Adjektive tranquillos und craignos sind Lexeme, die in den 80er Jahren neu gebildet wurden durch die zu dieser Zeit beliebte Suffigierung mit dem argotischen Suffix –os und nach Jean-Pierre Colin „très branchés“ waren, besonders bei den Jugendlichen. Versöhnlich lädt er den Präsidenten schließlich zum Essen ein: „A la ferme, c’est le panard/Si tu veux viens bouffer/On fumera un pétard/Et on pourra causer“ (V. 90 ff.). Dabei bleibt er mit den Lexemen c’est le panard, bouffer und pétard im familiären Register.

Thierry Séchan (1989, 95) merkt an, dass Renaud das Chanson lieber unter Giscards Regierung geschrieben hätte, da er für den zu dieser Zeit amtierenden Präsidenten Mitterrand Achtung und Respekt hat, ihn also persönlich in einem anderen Register ansprechen würde.

Aber durch die Verwendung des français vulgaire, populaire, familier und des Argots gibt sich Renaud in diaphasischer Sicht auf die Ebene des Gesprächs unter Freunden und Bekannten, und nicht auf die Ebene des Gesprächs mit höher gestellten Personen. Damit verneint er die Stellung des Präsidenten und übt so durch die Negation seiner Funktion Kritik an der Politik und der Regierung.

 

4.6.3.2 Morphosyntax und Phonetik

Das Chanson ist, wie schon im ersten Vers angekündigt, aufgebaut wie ein Brief, allerdings nicht wie ein offizieller Brief an eine höher gestellte Persönlichkeit, sondern an eine gleichgestellte Person. Der Brief wird inhaltlich und syntaktisch durch einleitende Sätze strukturiert, so zu Beginn „Je vous fais une bafouille“ (V. 2), dann weiter „Alors y paraît qu’on m’cherche“ (V. 18); „Monsieur le Président/Je suis un déserteur“ (V. 35 f.); „Maintenant j’vais t’dire pourquoi/J’veux jamais être comme eux“ (V. 58 f.); „Alors me gonfle pas“ (V. 69) und „Monsieur le Président/Pour finir ma bafouille/J’voulais t’dire/Qu’ce soir, on fait des nouilles“ (V. 86 ff.). Förmlich spricht Renaud den Präsidenten mit „Monsieur le Président“ (V. 1, 35, 86) an. Die Höflichkeitsform vous verliert sich aber sehr bald und wird ersetzt durch das familiäre tu: „Monsieur le Président/Je suis un déserteur/De ton armée de glands/De ton troupeau de branleurs“ (V. 35 ff.); „Maint’nant j’vais t’dire pourquoi“ (V. 58); „Si tu veux viens bouffer“ (V. 91). Dass es sich nicht um einen förmlichen, offiziellen Brief handelt, wird auch deutlich an der Struktur und den persönlichen Elementen. Der Brief ist formuliert wie ein Brief an einen guten Bekannten, was auch an der häufigen Verwendung der Personalpronomen je und on deutlich wird. Verstärkt wird der ‘gesprochene Charakter‘ des Briefs durch Füllwörter wie sûr’ment, vraiment, alors, pi surtout, ben, et pi, maintenant und simplement. Auffällig ist weiterhin der verstärkte Gebrauch des futur und des présent, wodurch die unterschiedlichen Lebenssituationen gegenübergestellt werden, so das Leben als écolo in der Ardèche und das Leben als Soldat.

Renaud bleibt auf der Ebene des gesprochenen und familiären Französisch: die Verneinung ist vereinfacht („J’ose pas imaginer“, V. 9; „Y z’auront pas ma peau“,

V. 39), bestimmte Satzteile werden durch dislocation und présentatifs hervorgehoben („Le travail, c’est pas pour nous“, V. 29; „Pi surtout c’qui m’déplait/C’est que j’aime pas la guerre“, V. 52 f.) und die Personalmorpheme treten in unterschiedlichen phonetischen Varianten auf. So wird je vor Konsonant verkürzt zu <j‘> („J’veux jamais être comme eux“, V. 59), wobei eine phonetische Verschleifung entsteht [SvO]; das Personalpronomen tu wird entsprechend der Umgangssprache vor Vokal verkürzt zu <t’> („T’as plus qu’à pas t’en faire“, V. 73); il wird verkürzt zu <y> („Y fait beau, tu l’crois pas“, V. 21), im Plural bleibt vor Vokal das phonetische Merkmal <z‘> aus der liaison erhalten („Y z’auront pas ma peau“, V. 39), vor Konsonant wird ils verkürzt zu <y> („Y sont nuls/y sont moches“, V. 56). In phonetischer Sicht bleibt das Chanson ebenfalls auf der Ebene der gesprochenen Substandardsprache: Das e muet fällt häufig bei einsilbigen Artikeln und Reflexivpronomen sowie inmitten eines Wortes, der Diphthong in puis wird monophthongiert zu <i> [pi], peut-être wird verkürzt zu p’t-être. Auch diese nachlässige Sprache ist ein Zeichen der Respektlosigkeit gegenüber der Position des Präsidenten, die in diesem Chanson charakteristisch für den Protagonisten ist.

 



[1] Aus dem Album Marche à l’ombre, Polydor 1980.

[2] Aus dem Album Marche à l’ombre, Polydor 1980.

[3] Aus dem Album Morgane de toi, Polydor 1983.

"Caractérisation linguistique des personnages des chansons de Renaud" par Barbara Bungter - Présentation en ligne