4.7 Geschichten aus der Vorstadt

Als Jugendlicher hat Renaud viel mit den loubards, den in Banden zusammen-geschlossenen Vorstadtjugendlichen unternommen. Daher kennt er die Lebensbedingungen, Werte und Einstellungen dieser Randgruppe. Viele Geschichten, die Renaud in seinen Chansons erzählt, haben Bekannte oder er selbst erlebt, so zum Beispiel die Erlebnisse in La Boum, Laisse béton oder Adieu Minette. Inhalte und Figuren anderer Chansons sind frei erfunden, entsprechen aber dem Leben der Vorstadt, wie Baston!, Les aventures de Gérard Lambert oder Marche à l’ombre!. Diese Lieder, die das Leben in der Vorstadt und insbesondere das Leben der loubards beschreiben, haben mitunter die Vorstellung, Renaud sei ein wahrer loubard, mit beeinflusst.

 

4.7.1 Marche à l’ombre! [1]

Das Chanson Marche à l’ombre! (von 1980, in Renaud 1988, 136 ff.) aus dem gleichnamigen, dritten Album Renauds, wurde ein großer Erfolg, „chacun s’émerveillant des trouvailles linguistiques de l’auteur“ (Séchan 1989, 62). Im Laufe des Chansons betreten fünf charakteristische Personen der französischen Gesellschaft die Bar des Protagonisten, der sie allesamt mit Gewalt aus seinem gastos vertreibt. „Plus qu’une chanson, c’était un petit film d’un humeur rageur et d’un rythme époustouflant“, beschreibt Thierry Séchan (1989, 62) dieses Lied.

 

4.7.1.1 Lexik

Die aggressive Grundhaltung des Barbesitzers und dessen Freund Bob („qu’était au flipp“, V. 5) wird durch das Vokabular aus den unterschiedlichen Substandard-registern deutlich. Das Chanson ist durchsetzt mit pejorativen Wörtern aus dem Argot, dem français populaire und familier, sowie mit übertragenen negativen Verwendungen gemeinsprachlicher Lexeme. Die Bar wird mit unterschiedlichen Lexemen benannt, so mit mon rade (V. 4), mon gastos (V. 23) und mon saloon (V. 44). Die Bezeichnung gastos führt Jean-Pierre Colin (2001) als eine Entlehnung Renauds, die auf dem deutschen Ausdruck Gasthaus beruht. Die Personen, die die Bar betreten, werden durch die Beschreibung ihres Aussehens und ihrer Marken-Accessoires charakterisiert. In der ersten Strophe betritt ein baba-cool cradoque (V. 1) das Bistrot. Der Ausdruck baba-cool ist im Petit Robert 1979 noch nicht verzeichnet, es handelt sich um einen Anglizismus, mit dem gegen Ende der 70er Jahre eine „jeune personne marginale, non violente, inactive, plus au moins nomade, écologiste, souvent mystique“ (Petit Robert 1994) bezeichnet wurde. Das Adjektiv cradoque vermittelt die Einstellung Renauds zu diesem Besucher: das familiäre Adjektiv crado mit der Bedeutung „très sale“ wird suffigiert mit dem pejorativen Argotsuffix –oque. Im Argot gibt es nach Jean-Pierre Colin (2001) viele verschiedene Suffigierungen für diesen Ausdruck. Ebenfalls abwertend ist die Bezeichnung mariole, die der Petit Robert 1979 noch als populaire einstuft. Im familiärem Register macht sich Renaud mit seinem Freund Bob über seinen Gast lustig: „Vise la dégaine/quelle rigolade“ (V. 7 f.). Mit seinem „bus Volkswagen“ (V. 2), dem charakteristischen Wagen für die Hippies dieser Zeit, dem Guide du routard, seinen Wanderschuhen (Pataugas) und der Duftpflanze Patchouli, mit seinen ch’veux au henné und oreille percée wird der baba-cool klischeehaft übertrieben beschrieben.

Die nächste Besucherin, „une p’tite bourgeoise bêcheuse“ (V. 21), überdurchschnittlich gut gekleidet und geschminkt („maquillée comme un carré d’as“, V. 22), trifft ebenfalls nicht Renauds Geschmack. Wieder wird die Person zu Beginn der Strophe durch ein pejoratives Adjektiv, hier bêcheuse, als „prétentieuse et snob“ (Petit Robert 1979) bewertet. Auch die Bezeichnung pouffiasse, die der Petit Robert 1979 als vulgäres Schimpfwort markiert, sowie die machistisch-sexuellen Anspielungen „vise la culasse/vise les nibards!“ zeigen Renauds Missachtung. Das Substantiv culasse als suffigierte Form des populären Ausdrucks cul wirkt vulgär. Ebenso die resuffigierte, argotische Form nibards, abgeleitet von der als populär und vulgär eingestuften Bezeichnung nichon für „sein de femme“. Claude Duneton (1998, 459) merkt an: „La résuffixation en –ard donne une connotation plus argotique et machiste.“

Mit ihren eng anliegenden Hosen im Leopardenmuster, den teuren Parfums „Monoï et Schalimar“ (V. 30) und ihren „futal en skaï comme Travolta“ (V. 30) scheint sie in Renauds Bistrot unangemessen, und er merkt ironisch an: „Non, mais elle s’croit au Palace“[2]. Er kommt also zu dem Schluss: „J’peux pas saquer les starlettes/ni les blondasses“ (V. 33 f.). Der argotische Ausdruck ne pas pouvoir saquer qqn. mit der Bedeutung „détester qqn., ne pas pouvoir supporter qqn.“ unterstreicht Renauds Ablehnung. Seine Respektlosigkeit auch gegenüber Frauen wird im Refrain verdeutlicht, denn auch bei ihr macht Renaud keine Ausnahme und wirft sie aus seiner Bar.

Der nächste Besucher, „un p’tit rocky barjo“ (V. 41), scheint Renaud mehr Probleme zu machen. Das Lexem rocker, hier in der Variante rocky, bezeichnet einen „type jeune à la tenue particulière: blouson de cuir, santiags, banane“ (Colin 2001), zusätzlich trägt er eine Sonnenbrille der Marke Ray-Ban. Die verlan-Form barjo, die phonetische Umkehrung von jobard, verstärkt die Bedeutung dieses Adjektivs zu „fou, qui a l’esprit dérangé“ (Colin 2001). Renaud warnt seinen Freund Bob: „Arrête, j’ai peur, c’t’un blouson noir!/J’veux pas d’histoires/avec ce clown“ (V. 46 ff.).

Die beiden nächsten Gäste, „un punk qu’avait pas oublié d’êtr’moche/pi un intellectuel en loden genre Nouvel Obs‘ “ werden nicht weiter beschrieben.

Allen Besuchern widerfährt im Laufe der Geschichte das gleiche Schicksal, hier am Beispiel der p’tite bourgeoise bêcheuse dargestellt: „je l’ai chopée par le colback/et j’ui ai dit: Toi tu m’fous les glandes/pi t’as rien à foutre dans mon monde/arrache-toi d’là, t’es pas d’ma bande/casse-toi, tu pues, et marche à l’ombre!“ (V. 35 ff.). Das

Verb choper mit der Bedeutung „prendre, saisir“ ist im Petit Robert als populaire ou familier eingestuft, le colback ist die argotische oder populäre Bezeichnung für col, cou. Äußerst aggressiv wirken die argotischen Ausdrücke tu m’fous les glandes als „irriter qqn.“ (Colin 2001), t’as rien à foutre dans mon monde und arrache-toi oder casse-toi als „partir rapidement“ (Colin 2001). Der titelgebende Ausdruck marche à l’ombre ist eine Neuschöpfung Renauds mit der Bedeutung „ne pas se faire remarquer, se faire tout petit“ (Colin 2001), und Thierry Séchan (1989, 62) merkt an: „Popularisée par Renaud, l’expression marche à l’ombre eut la fortune que l’on sait, tout comme laisse béton.“ Allerdings ist der Ausdruck auch in der Ausgabe des Petit Robert aus dem Jahr 2001 nicht verzeichnet. Als humoristisch-ironisches Element wird der Refrain nach der letzten Strophe auf den Tod bezogen: „Si ce mec-là me fait la peau/et que j’crève la gueule sur l’comptoir/si la Mort me paye l’apéro/d’un air vicelard/avant qu’elle m’emmène voir là-haut/si y a du monde dans les bistrots/j’ui dirai: toi tu m’fous les glandes/[...]“ (V. 66 ff.).

Renaud selbst charakterisiert sich einerseits durch seine Sprache in diastratischer Sicht als Barbesitzer aus dem unteren sozialen Milieu. Andererseits beschreibt er sich ironisch mit „c’est vrai que j’suis épais comme un sandwich-SNCF“ (V. 63). Die sprachliche Haltung (aggressives Vokabular aus den untersten Registern des Französischen) unterscheidet sich also von der äußerlichen Realität und wirkt als Erkennungs- und Gruppenzugehörigkeitszeichen. Durch das aggressive Vokabular wird die negative Grundeinstellung des Protagonisten verdeutlicht. Charakteristisch für ihn ist die Zugehörigkeit zu einer Bande („t’es pas d’ma bande“, V. 19 u.a.), was auch durch die Sprache verdeutlicht wird. Zum einen dient sie hier als Abgrenzung von den anderen Personen, und zum anderen als Erkennungsmerkmal und sprachlicher Code zwischen dem Protagonisten und seinem Freund Bob. Der Barbesitzer und Bob leben in ihrer eigenen kleinen Welt, in der andere Personen keinen Platz finden. Sie werden abgestempelt und vertrieben. Dabei stellt Renaud den Protagonisten nicht als unzufrieden dar, im Gegenteil, er scheint sehr überzeugt von sich und seiner Bande, so dass er es auch mit dem Tod aufnehmen kann.

 

4.7.1.2 Morphosyntax und Phonetik

Das Chanson ist aufgebaut als Renauds spontane Erzählung seiner kuriosen Erlebnisse in seiner Bar, gekennzeichnet durch die Verwendung der Personal-morpheme je, me, mon und nous. Er brüstet sich mit den verschiedenen Episoden und beschreibt sie sehr anschaulich. Charakteristisch für die spontane gesprochene Substandardsprache ist die Wiedergabe der wörtlichen Rede, entweder als Wiedergabe eines Gesprächs mit Bob: „j’ai dit à Bob qu’était au flippe:/[...]“ (V. 5, 25), oder aber als Wiedergabe eines inneren Monologs: „j’ai réfléchi et je m’suis dit:/[...]“ (V. 62). Der Freund Bob, vertieft in sein Flipperspiel, wird dabei von Renaud durch Imperativformen auf die jeweiligen Besucher aufmerksam gemacht: „Viens voir le mariole que s’ramène/vise la dégaine“ (V. 6 f.); „Reluque la tronche à la pouffiasse/vise la culasse/et les nibards“ (V. 26 ff.); „Arrête, j’ai peur, c’t’un blouson noir“ (V. 46). Durch die wiederholende Ansprache des Freundes wird der charakteristische Gruppenzusammenhalt verdeutlicht.

Im Refrain taucht immer dieselbe wörtliche Rede auf mit der Einleitung „et j’ui ai dit“ (V. 17, 37, 59) beziehungsweise „j’ui dirai“ (V. 72). In Übereinstimmung mit den phonetischen Regeln des français populaire treten die Personalpronomen in unterschiedlichen Varianten auf: il wird zu <y> vor Konsonant („y vas nous taper cent balles“, V. 12) und zu <l‘> vor Vokal („L’a qu’à retourner chez les Grecs“, V. 55), lui wird verkürzt zu <ui> („et j’ui ai dit [...]“, V. 17), tu wird vor Vokal verkürzt zu <t‘> („pi t’as rien à foutre dans mon monde“, V. 18) und je wird vor Konsonant verkürzt zu <j‘> („J’peux pas saquer les starlettes“, V. 33). Die Verneinung ist vereinfacht („J’veux pas d’histoires“, V. 47), und die Aussprache sehr nachlässig: das e muet fällt grundsätzlich weg, wenn es artikulatorisch möglich ist, das Reflexivpronomen qui wird vor Vokal an que angeglichen („j’ai dit à Bob qu’était au flipp“, V. 5), der Diphthong in puis wird monophthongiert zu [pi], und es entstehen phonetische Verschleifungen. Diese Aussprache verstärkt den vulgären und ablehnenden Charakter des Barbesitzers.

 

4.7.2 Laisse béton[3]

Mit dem Chanson Laisse béton (von 1975, in: Renaud 1988, 85 ff.) erzielt Renaud nicht nur seinen ersten großen Erfolg, sondern „il remet à la mode le verlan, un jargon disparu depuis un siècle, et reposant sur l’inversion des syllabes. [...] En moins d’une décennie, il deviendra le langage quotidien des banlieues“ (Rioux 1992, 364). Renaud gelingt es sogar, aus dieser Sprachform „une langue poétique“ (Erwan 1986, 27) zu machen. Dabei hat Renaud den verlan selbst erst spät kennengelernt: „Je connaissais le principe du verlan, mais je l’utilisais pas et du jour où j’me suis fait pote avec ces mecs qui rôdaient à Montparnasse, au début des années 70, et qui parlaient du

verlan, j’ai commencé à l’utiliser“ (Renaud, in: Erwan 1982, 13). Durch dieses Chanson ist besonders der titelgebende Ausdruck laisse béton in die Gemeinsprache übergegangen: „N’empêche que c’est bien Renaud qui a fait la fortune de l’expression <laisse béton>, au point de la faire passer dans le langage commun“ (Robine 1995, 89). Die Geschichte des Chansons ist, wie oft in Renauds Repertoire, eine Geschichte, die wirklich so passiert ist, von einigen Ausschmückungen des Autors abgesehen:

„Dans mes chansons, j’racontais en effet essentiellement des choses qui m’étaient arrivées à partir desquelles je brodais pour qu’il y ait une part d’imagination. Ou bien c’étaient des choses qui étaient arrivées à des potes à moi, comme l’histoire que je raconte dans Laisse béton“ (Renaud, in: Erwan 1982, 63).

 

Wenn man bedenkt, welch großen Erfolg das Chanson hatte, so verwundert es, dass Renaud nur eine dreiviertel Stunde gebraucht hat, um Text und Musik zu schreiben: im Bistrot La Pizza du Marais schrieb er seinen Hit auf eine leere Zigarettenschachtel (Erwan 1982, 63). Die Thematik des Chansons ist aus dem Lebensumfeld der loubards gegriffen, und Thierry Séchan (1989, 55) merkt an, dass Renaud die Probleme der Jugendlichen und der Delinquenz besser als 100 Soziologen in zehn Jahren darstellt.

 

4.7.2.1 Lexik

Wie in vielen Chansons Renauds, wird auch in Laisse béton der gleiche Vorfall mit jeweils verschiedenen Personen erzählt. Aus seiner Perspektive erzählt Renaud in drei Strophen, was ihm als loubard in einem Bistrot widerfahren ist. Jede Strophe beginnt mit der Aussage „J’étais tranquille, j’étais peinard“ (V. 1, 16, 31), wobei das als populaire eingestufte Adjektiv peinard als „paisible, qui se tient à l’écart des ennuis“ (Petit Robert 1979) die friedliche Haltung des Protagonisten verstärkt. In jeder der drei Strophen taucht ein type auf, der Renaud auf seine Kleidung anspricht um ihm dann, an einer unbeobachteten Stelle („dans l’terrain vague“, V. 9; „dans la ruelle“,

V. 25; „derrière l’église“, V. 41), diese abzunehmen.

In der ersten Strophe gefallen diesem type Renauds Stiefel: „T’as des bottes, mon pote, elles me bottent/J’parie qu’c’est des Santiag‘ “ (V. 7 f.). Renaud bleibt hier ganz im Register des français populaire. Die apokopierte Form Santiag‘ bezeichnet die für loubards charakteristischen Cowboystiefel Santiagos. Der populär-argotische Ausdruck elles me bottent im Sinne von plaire, convenir (Colin 2001) bezieht sich nicht nur lautlich auf les bottes, sondern ist auch von dieser Bedeutung abgeleitet als „idée de bien chausser, d’aller parfaitement“ (Colin 2001). Die Anrede mon pote ist natürlich ironisch zu verstehen, denn freundschaftlich ist der Besucher nicht eingestellt: „Viens faire un tour dans l’terrain vague/j’vais t’apprendre un jeu rigolo/à grands coups de chaîne de vélo/j’te fais tes bottes à la baston!“ (V. 9 ff.). Euphemistisch wirkt das als familier eingestufte Adjektiv rigolo in Verbindung mit den nachfolgenden Ankündigungen. Das Verb faire ist im Argot sehr produktiv in verschiedenen Bedeutungen (Colin 2001), so auch als „voler“. Der spezielle Ausdruck faire qqn. à (la baston[4], la vertu, au culot) bedeutet hier „employer ce moyens pour parvenir à ses fins“ (Colin 2001). Baston ist die argotische Bezeichnung für „bagarre, coup“ (Colin 2001), und Claude Duneton (1998, 549) merkt an: „Appellation récente (courante dans les années 80) de la castagne par les bandes agressives des banlieues parisiennes.“ Nach ihm ist der Ausdruck in den 70er Jahren im argot des banlieues aufgetaucht, allerdings verzeichnet Jean-Paul Colin (2001) einen früheren Beleg aus den 50er Jahren.

Nach jeder Begegnung kommt es zu einem Kampf zwischen Renaud und dem jeweiligen type, den Renaud allerdings immer verliert, so dass er sein Kleidungsstück abgeben muss, in diesem Fall „j’lui ai filé mes grolles“, wobei les grolles die argotische Bezeichnung für chaussures ist. Amüsant wirkt die unterschiedliche Verwendung des 1979 noch als populaire eingestuften Verbs filer mit der Bedeutung „donner, mettre“, das sich zunächst auf die verschiedenen Faustschläge bezieht

(„Y m’a filé une beigne, j’y ai filé une torgnole/m’a filé une châtaigne“, V. 14 f.), am Ende der Aufzählung aber auf das jeweilige Kleidungsstück („j’lui ai filé mes grolles, V. 15).

Es lässt sich ein großes semantisches Feld aus dem populärem und argotischen Register zur Bezeichnung dieser Schlägereien aufstellen, so la baston, à grands coups de chaîne de vélo, une beigne, une torgnole, une châtaigne, un marron, à grands coups de ceinturon und une mandale. Dieses semantische Feld zur Bezeichnung von „une grosse gifle, un coup de poing“ ist im Argot der loubards besonders dicht besetzt, da es sich auf deren direktes Lebensumfeld bezieht.

Renaud selbst gibt sich zwar auch durch die Beschreibung seiner Kleidung als loubard, dennoch geht er diesen handgreiflichen Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg: „Moi j’y ai dit: Laisse béton!“ (V. 12 f., 27 f., 43 f.). Dieser titelgebende Ausdruck ist die verlan-Form von laisse tomber, wobei nur der letzte Teil des Ausdrucks umgedreht wird. Der verlan ist nach Andrea Redecker (1993, 429) charakteristisch für den Argot der loubards.

Der zweite type, der die Bar betritt, ist an Renauds blouson interessiert: „T’as un blouson, mecton, l’est pas bidon!“ (V. 22). Die argotisch suffigierte Form von mec, mecton, drückt als Diminutivform die Überlegenheit des Gegners aus. Auch die Wendung l’est pas bidon als verneinte Form eines negativen Ausdrucks (bidon aus dem Register des français populaire bedeutet „mauvaise marchandise“) drückt auf seine sehr missachtende Weise die Qualität der Jacke aus. Als Begründung für sein Interesse an der Jacke gibt er an: „Moi j’me les gèle sur mon scooter/avec ça j’s’rai un vrai rocker“ (V. 23 f.). Se les geler ist die elliptische Form des populärem Ausdrucks se geler les couilles im Sinne von avoir très froid. Die Anglizismen rocker und scooter sind typisch für die Jugendsprache und den Argot der loubards. Die Androhung „j’te montrerai mon Opinel/j’te chourav’rai ton blouson“ (V. 26 f.) ist aus dem geläufigen Register der Jugendlichen in den 70er Jahren (Duneton 1998, 564). Opinel beschreibt eine französische Messermarke, das Verb chouraver, nicht verzeichnet im Petit Robert 1979, aber als familier markiert im Petit Robert 2001, ist der argotische Ausdruck für „voler, dérober“ (Colin 2001).

In der dritten Strophe wechselt das Dekor: Renaud repariert „tranquille et peinard“ (V. 31) am Straßenrand sein Motorrad, als überlegen wieder ein type „sur sa grosse moto super-chouette“ (V. 34) auftaucht. Die apokopierte Form moto von motocyclette sowie die präfigierte Form super-chouette sind ebenfalls charakteristisch für die Jugendsprache und den Argot der loubards. Das Präfix super- ist nach Jean-Pierre Colin (2001) „très en vogue dans le parler jeune des années 1980 –1990“ und drückt einen „très haut dégré d’excellence“ aus. Diesmal kämpft Renaud um seine Hose: „t’as l’même blue-jean que James Dean/[...]/j’parie qu’c’est un vrai Lévi-Strauss“

(V. 37 ff.). Diese besonders teure Jeansmarke ist „carrément pas craignoss“ (V. 40). Das Adjektiv craignoss (das <-ss> markiert die Aussprache des –s) als suffigierte Form des Stamms von craindre mit dem argotischen Suffix –os(s) gilt als „néologisme des jeunes à la mode des années 80“ (Duneton 1998, 158), und auch Jean-Paul Colin stuft diese Form als „très branché“ ein. Auch die als Präposition verwendete Formulierung „histoire que je te dévalise“ (V. 42) mit der Bedeutung „afin que je te dévalise“ ist typisch für die Jugendsprache (Bollée 2000, 351). Aus dem Argot stammt die Bezeichnung futal für „pantalon“, die Renaud in dieser Strophe seinem Gegner überlassen muss.

Als Moral dieser Geschichte gibt Renaud an: „faut pas trop traîner dans les bars/à moins d’être fringué en costard“ (V. 49 f.), und er fügt ironisch hinzu „Quand à la fin d’une chanson/tu t’retrouves à poil sans tes bottes/faut avoir d’l’imagination/pour trouver une chute rigolote“ (V. 51 ff.). Durch diesen Schluss stellt Renaud die schwache Seite der loubards dar, die sich durch ihre Kleidung anders präsentieren, als sie sind: „Il donne du loubard l’image d’un personnage peu sérieux, espèce de grand enfant paumé dans une existance trop grande pour lui“ (Lefèvre 1985, 19). Renaud beschreibt sich zwar in diesem Chanson durch seine Kleidung als loubard (Lederjacke, Cowboystiefel, Jeans und Motorrad), ist aber nicht gewalttätig, wie man es erwarten würde, sondern tranquille et peinard. Wäre er aber fringué en costard, wobei fringuer der populäre Ausdruck für habiller ist und costard die parasitäre Suffigierung von costume (d’homme), wären die anderen loubards nicht an ihm interessiert gewesen. Übertrieben beschreibt sich Renaud am Ende des Chansons als à poil, die familiäre Bezeichnung für tout nu und hebt so noch einmal die schwächliche und lächerliche Seite des loubards hervor, wie er ihn auch in Buffalo débile oder Je suis une bande de jeunes beschreibt.

Lexikalisch bleibt Renaud auf der Ebene des français populaire und familier und situiert das Geschehen durch die Verwendung spezieller jugendsprachlicher Lexeme und des Argots der loubards in den Lebensbereich dieser Jugendlichen.

 

4.7.2.2 Morphosyntax und Phonetik

Jacques Erwan (1986, 27) beschreibt den Stil des Textes mit „cette écriture est d’une rare oralité“ und bezieht sich mit dieser Aussage sicherlich auf die syntaktischen Besonderheiten des Chansons. In der ersten Person (Verwendung des Personalpronomens je) erzählt Renaud seine Erlebnisse mit den loubards. Nach einem immer wiederkehrenden Schema beschreibt er den Beginn eines jeden Vorfalls. Hierbei wird deutlich, dass es sich um spontane, gesprochene Substandardsprache handelt, die den genauen Hergang einer Situation durch eine präzise Nacherzählung wiedergibt. Das Chanson ist syntaktisch so strukturiert, als handele es sich um eine direkte Erzählung Renauds an seinen Zuhörer. Deutlich wird dieses Phänomen durch die Verwendung des Ausdrucks „pi y m’a regardé comme ça“ (V. 6), da comme ça eine visuelle Verdeutlichung impliziert. Auch die direkte, wenn auch verallgemeinernde Ansprache des Zuhörers in der letzten Strophe („quand t’es tranquille et peinard“,

V. 51; „tu t’retrouves à poil sans tes bottes“, V. 52) erweckt den Eindruck eines persönlichen Gesprächs. Der Einschub der direkten Rede (z.B. „T’as des bottes, mon pote, elles me bottent!“, V. 7; „Moi j’y ai dit:/Laisse béton!“, V. 12 f.) lässt die Beschreibung sehr lebendig erscheinen. Dabei kann man typische Merkmale der spontanen, gesprochenen Substandardsprache feststellen. So fehlt oft das Personalmorphem vor Verbformen („a commandé un jambon-beurre“, V. 4; „m’a filé une châtaigne“, V. 15; „s’est arrêté l’long du trottoir“, V. 35; „faut avoir d’l’imagination“, V. 53). Die Verneinung ist vereinfacht („T’as un blouson, mecton, l’est pas bidon!“, V. 22), Verb und Bezugswort stimmen nicht überein („j’parie qu’c’est des Santiag‘ “, V. 8), und die Personalmorpheme treten in unterschiedlichen phonetischen Varianten auf, wobei sich phonetische Verschleifungen ergeben: so wird il vor Konsonant zu <y> („pi y m’a regardé comme ça“, V. 6) und vor Vokal zu <l‘> („[...] l’est pas bidon“, V. 22), je wird vor Konsonant verkürzt zu <j‘> („j’te fais tes bottes à la baston!“, V. 12), lui wird verkürzt zu <y> („Moi j’y ai dit“, V. 12) und tu wird entsprechend den Regeln der Umgangssprache vor Vokal verkürzt zu <t‘> („T’as un blouson [...]“, V. 22). Weiter fällt das e muet sehr häufig, der Diphthong in puis wird monophthongiert zu <pi> [pi] und die Aussprache wird stark vereinfacht und verkürzt, so auch bei „c’te pauvre histoire“ (V. 47). Durch diese sprachlichen Merkmale charakterisiert Renaud den Protagonisten eindeutig als jugendlichen loubard, vermittelt allerdings inhaltlich ein sehr ungewöhnliches, da friedliches und bis zu einem gewissen Maß lächerliches Bild dieser Figur.

 

4.7.3 Baston! [5]

Von der Einsamkeit und dem harten Leben in der Vorstadt erzählt Renaud in diesem Chanson (von 1980, in: Renaud 1993, 100 ff.). Der Protagonist, Angelo, „un rêveur qui se heurte à tous les murs de la réalité“ (Séchan 1989, 65), sieht die einzige Chance aus seiner traurigen Wirklichkeit zu fliehen in den Schlägereien und in der Aggressivität. Renaud versucht, einen Einblick in das Leben der loubards zu geben und ihr Verhalten, das von der Bevölkerung verallgemeinert und verurteilt wird, zu erklären. Baston! était [...] une chanson dure, brutale, qui disait la solitude du <loubard de fond>“, schreibt Thierry Séchan (1989, 65). Die Brutalität Angelos schlägt sich in der Sprache nieder, die Einsamkeit im Inhalt. Der Text ist nach Thierry Séchan (1989, 65) „magnifiquement construit“ und Régis Lefèvre beschreibt ihn als „un de ses textes les mieux conçus, les mieux structurés, les plus criants de vérité“ (Lefèvre 1985, 94). Gezielt vermittelt er die Gedanken und die Konflikte der Hauptfigur.

 

 

 

4.7.3.1 Lexik

In drei Strophen beschreibt Renaud die Probleme Angelos in seinen verschiedenen Lebensbereichen. Jede Strophe beginnt mit den beiden Verszeilen „Les poings serrés au fond des poches de son blouson/Angelo flippe à mort [...]“ und drückt so die Spannung und den allgemeinen Gemütszustand des Protagonisten aus. Das Verb flipper, ein Anglizismus mit der Bedeutung „se trouver dans un état d’angoisse ou de dépression“ (Colin 2001) wird durch den Zusatz à mort verstärkt.

In der ersten Strophe beschreibt Renaud die Probleme des loubards, eine feste Freundin zu finden: „Y rêvait d’une gonzesse qu’aurait été qu’à lui“ (V. 9). Aber Angelo „est encore plombé“ (V. 2). Das Verb plomber qqn. stammt aus dem Argot und bedeutet „contaminer qqn. par une maladie vénérienne, syphilis surtout“ (Petit Robert 2001). Renaud verdeutlicht die aussichtslose Lage Angelos: „sûr qu’il a pas fini d’s’en choper des choses tristes“ (V. 8), wobei der metaphorische Ausdruck s’en choper des choses tristes sich wieder auf ansteckende Krankheiten bezieht. Aber „au fond d’sa caboche, y s’fait pas d’illusions/à force de cartonner, dans tous les azimuts“ (V. 4 f.). Das Verb cartonner in der Bedeutung „posséder sexuellement“ ist nach Jean-Paul Colin (2001) in diesem Sinne eine neue Verwendung des Lexems, Renaud wird mit der entsprechenden Textstelle aus Baston! zitiert und als Erstbeleg geführt. Die Frauen werden mit den vulgären und familiären Bezeichnungen des gonzesses, la rouquine, des minettes und des putes beschrieben.

Die zweite Strophe handelt von Angelos Arbeit, denn er ist „encore viré“ (V. 21). Renaud bleibt zunächst im Register des français familier (viré, boulot, décaniller), wechselt aber in den Argot oder ins français populaire, sobald es um Angelos Aggressivität geht: „y s’s’rait barré“ (V. 23); „s’faire le coffre-fort dans l’bureau du premier/et la peau du p’tit chef, qu’a jamais pu l‘saquer“ (V. 25 f.). Das im Argot sehr häufig und mit unterschiedlichen Bedeutungen verwandte Verb faire erhält hier zwei Bedeutungen: in se faire le coffre-fort bedeutet es „voler“, in faire la peau du p’tit chef „tuer“.

Die dritte Strophe beschreibt Angelos Probleme mit seiner Familie. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen er wohnt, werden deutlich durch die populäre Bezeichnung „dans la turne glacée“, da turne die negative Konnotation „maison, chambre, logement, le plus souvent médiocre, mal tenu“ (Colin 2001) in sich trägt. Angelos Eltern „s’engueulent à longueur de journée“ (V. 42), seine Mutter „a bazardé sa rouleuse et son herbe“ (V. 44), sein „connard de p’tit frère est v’nu jouer au cow-boy/dans sa piaule“ (V. 45) und „l’boxon [...] lui fout la gerbe!“ (V. 46). Die Beschreibung bleibt hier im argotisch-populären Register und verstärkt so Angelos Abneigung gegen sein zu Hause. Besonders der argotische Ausdruck ça lui fout la gerbe (kein Eintrag im Petit Robert 1979 bis 2001) für „vomissement“ (Colin 2001) verdeutlicht diese Einstellung.

Durch die Accessoires wie sa collec‘ de Play-boy, sa rouleuse und son herbe wird Angelo als vernachlässigter Jugendlicher beschrieben, der sich nirgendwo wohl fühlt, auch nicht bei seiner Familie. Die Bezeichnung rouleuse ist nach Jean-Paul Colin (2001) eine Neuschöpfung Renauds mit der Bedeutung „appareil servant à rouler des cigarettes , des joints“.

Der einzige Ausweg, den Angelo sieht, wird im Refrain beschrieben: „Alors ce soir [...]/[...]/il ira au baston, au baston/comme le prolo va au charbon/[...]/fil’ra des coups, prendra des gnons“ (V. 13 ff.; V. 32 ff.; V. 51 ff.). Durch den Vergleich comme le prolo va au charbon stellt Renaud die Normalität und das alltägliche Leben Angelos dar. Der Ausdruck baston als „bagarre“ (< bastonnade) ist typisch für die „bandes agressives des banlieues parisiennes“ (Duneton 1998, 549) und ist durch das Chanson Baston! weit verbreitet worden (Duneton 1998, 549). Aus dem argotischen Vokabular der loubards stammt auch die Bezeichnung gnon für „coup de poing“.

Renauds Schlussfolgerung aus Angelos Verhalten ist recht simpel: „c’est p’t’êtr‘ con, mais tout est con!“. Das Adjektiv con fällt in das „registre de la vulgarité“ (Duneton 1998, 281) und verdeutlicht Angelos Ablehnung der Welt. Für ihn gibt es nur einen Ausweg: „l’a une envie d’crever qui lui r’monte du bas-ventre“ (V. 12) und „et pour jamais vieillir y sait qu’y doit crever!“ (V. 50). Wo immer eine Schlägerei zu erwarten ist, da ist auch Angelo: „à la foire“ (V. 13), „à Pantin“ (V. 32) oder „au baloche“

(V. 51), wobei baloche eine Neuschöpfung Renauds ist aus bal und dem pejorativen Argotsuffix –oche (Colin 2001). Jean-Paul Colin datiert dieses Lexem auf 1980 und belegt es mit dem entsprechenden Zitat aus Baston!. Allerdings taucht baloche schon früher in Renauds Texten auf, so in dem Chanson C’est mon dernier bal von 1978/79.

Renaud bleibt weitgehend im Register des français familier, er wählt also das Register der zwanglosen Unterhaltung und schafft so eine persönliche Atmosphäre. Auf diese Weise gelingt es ihm, seinen Protagonisten von einer anderen Seite zu präsentieren, als ihn die meisten Außenstehenden sehen. Das Lebensumfeld Angelos wird mit Vokabular aus dem français populaire beschrieben, wobei der Übergang der beiden Register zwar fließend ist, aber dennoch qualitative Unterschiede festzustellen sind. So wirkt die Beschreibung nicht verharmlosend und beschönigend, durch negativ konnotierte Lexeme vermittelt Renaud seinem Publikum die traurige und harte Lebenswelt Angelos: crever, se barrer, faire la peau à qqn., la turne, s’engueuler, son pieu, sa piaule. Durch vulgäres und argotisches Vokabular wie cartonner, être plombé, putes, baston, con, connard und foutre la gerbe verdeutlicht Renaud die Gewalt und die Vulgarität des Protagonisten. Durch die typisch jugendsprachlichen Lexeme wie Anglizismen (le box, du pressing) und apokopierte Formen (sa mob, sa collec‘, le prolo) charakterisiert Renaud seine Figur als Jugendlichen aus der Vorstadt. Allerdings bleibt er in seiner Beschreibung distanziert, er ist in diesem Fall nur Vermittler, Erzähler und Beobachter. Diaphasisch wählt er also das Register des français familier, diastratisch das français populaire und den Argot, um auf eine realistische, aber dennoch persönliche Art von Angelo zu berichten.

 

4.7.3.2 Morphosyntax und Phonetik

Da Renaud in diesem Chanson die Position des unbeteiligten Erzählers einnimmt, also als Beobachter von Angelos Leben spricht, entspricht die Syntax nicht der Dialogform der gesprochenen, spontanen Sprache, sondern der strukturierten Beschreibung. Der Protagonist wird mit Namen vorgestellt und Renaud spricht hauptsächlich in der dritten Person, distanziert sich somit selbst vom Geschehen. Dennoch versucht er im Stil der gesprochenen Sprache zu berichten, um das Gefühl eines zwanglosen Gesprächs und einer persönlichen Erzählung zu vermitteln. Der mündliche Charakter der Beschreibung wird besonders deutlich an der Phonetik: Das e muet fällt hauptsächlich bei le, de und dem Personalmorphem se, nur selten im Wortinneren wie bei r’monte, p’tit. Einige Wörter werden aber stark verkürzt wie <t’t’façon> statt toute façon, <pass’qu‘> statt parce que und <p’t’êtr‘> statt peut-être.

Die Personalmorpheme treten in unterschiedlichen phonetischen Varianten auf: il wird stellenweise vor Konsonant zu <y> („Y rêvait d’une gonzesse“, V. 9), vor Vokal zu <‘l‘> („‘l’a une envie d’crever“, V. 12). Das Personalpronomen tu wird vor Vokal entsprechend der Substandardsprache verkürzt zu <t‘> („où tu pourrais aller que quand t’en as envie“, V. 29). Das Reflexivpronomen qui gleicht sich an das Reflexivpronomen que an und wird vor Vokal verkürzt zu <qu‘> („des gonzesses qu’ont le cœur planté en haut des cuisses“, V. 6).

Die Sätze der einzelnen Strophen sind eher komplex und gut strukturiert durch Relativsätze und Kausalverknüpfungen oder Konzessivsätze. Allerdings ist die Verneinung vereinfacht, ein Zeichen der gesprochenen Sprache („Y trouve plus sous son pieu sa collec‘ de Play-boy“, V. 43).

Im Refrain wird der sich immer wiederholende Alltag Angelos am Abend ausgedrückt durch die Formulierung „Alors ce soir [...]/il ira au baston, au baston/[...]/fil’ra des coups, prendra des gnons“. Die Form des Futurs steht für den unveränderlichen Ablauf des Abends, die Schlägerei als Ausgleich zu Angelos tristen Alltag ist vorprogrammiert. Renauds persönliche Stellungnahme und damit auch ein direkter Einwurf in seine Erzählung erfolgen durch den jeweils letzten Vers des Refrains: „c’est p’t’êtr‘ con, mais tout es con!“. Renaud versucht Angelos Verhalten zu rechtfertigen, es zu erklären. Durch die ausführliche, geplante Erzählung sowie durch persönliche Kommentare wird ein genaues Porträt des verzweifelten, einsamen loubards gezeichnet. Die gesprochene Sprache ermöglicht ein Einfühlen in Angelos Welt, da sie direkter auf den Zuhörer wirkt als die Standardsprache.

 

4.7.4 C’est mon dernier bal[6]

Dass Renaud in diesem Chanson (von 1978, in: Renaud 1988, 118 ff.) nur die Rolle eines loubard einnimmt und nicht von einer persönlich erlebten Episode berichtet, wird im letzten Refrain besonders deutlich: „C’est mon dernier bal./J’en ai reçu une./Putain qu‘ça fait mal/de crever sous la lune“ (V. 93 ff.). Dennoch ist dieses Chanson neben anderen ein Grund dafür, dass Renaud oft als loubard gesehen wird: detailliert beschreibt er den Abend einer Jugendbande und vermittelt sowohl sprachlich als auch inhaltlich ein sehr genaues Bild dieser loubards, die aus Langeweile einen friedlichen bal populaire aufmischen. Das Chanson ist aber nicht nur eine soziologische Beobachtung der Gruppe der loubards, sondern auch eine Kritik an der Gesellschaft, insbesondere an der Gewalt der Polizei, die ohne zu zögern von ihren Waffen Gebrauch macht.

 

4.7.4.1 Lexik

Das Vokabular aus dem français populaire und dem Argot ist typisch für die Sprache der loubards. Da in den „cinoches de Créteil“ (V. 1) nur „des pornos“ (V. 2) gezeigt werden, die aber schon alle gesehen haben, beschließt die Jugendbande, auf den „baloche à Sarcelles“ (V. 6), also in ein anderes ’Revier‘, zu gehen, denn „y’aura p’t’être des morues/et puis ça fait un bail/qu’on s’est plus bastonné/avec de la flicaille/ou des garçons bouchers“ (V. 8 ff.). Allein diese Beschreibung zeigt schon deutlich die Interessen der loubards, nämlich Frauen – wobei der Ausdruck morues

sehr abwertend als Beschimpfung angesehen und vom Petit Robert 1997 als vulgaire eingestuft wird – und Schlägereien mit der flicaille oder anderen Jugendbanden. Die meisten Ausdrücke sind sehr negativ konnotiert, teilweise wegen der pejorativen Suffigierungen wie -oche in cinoche und baloche oder –aille in flicaille. Mit ihren bécanes fahren die loubards „direction la castagne/la bière à bon marché“ (V. 19 f.). Auch hier entsprechen les bécanes, la castagne und la bière den Interessen der Vorstadtjugendlichen. Am Ball angekommen, wollen die Jugendlichen keinen Eintritt bezahlen, denn „vingt-cinq balles, c’est trop cher“ (V. 36) und mischen sich unbeobachtet schnell unter die Menge („pour foncer dans l’tas“, V. 40). Die erste Schlägerei mit „une bande de mecs/d’l’autre côté de la piste“ (V. 49) ist nicht weit: „on s’est frité avec“ (V. 53) ist ein charakteristisches Lexem für den Argot der loubards mit der Bedeutung „se battre“ (Colin 2001). Aber „puis on s’est réconcilié/d’vant une bière, en s’marrant“ (V. 55 f.). Verallgemeinernd erklärt Renaud, wie die Feste für loubards ablaufen: „D’nos jours, dans les baloches/on s’exprime, on s’défoule/à grands coups d’manches de pioches/une fracture, ça dessoûle“ (V. 57 ff.). Die nächste Provokation für die Gruppe aus Créteil ist der Akkordeonspieler des Balls, der abwertend mit „l’espèce de ringard/qui jouait d’l’accordéon“ (V. 65 f.) beschimpft wird. Die argotische Bezeichnung ringard als „personne médiocre, incapable“ ist im Petit Robert 1979 noch nicht verzeichnet, wird aber in der Ausgabe von 2001 als familier aufgeführt. Die Auseinandersetzung mit dem ringard artet schließlich in einem „baston général“ (V. 74) aus, woraufhin die „milices rurales“ (V. 76) erscheinen und der loubard erschossen wird. Ironisch schließt Renaud mit der Moral des Chansons: „Dans la vie, mon p’tit gars/y’a pas à tortiller/y’a rien de plus dangereux/que de se faire tuer“ (V. 89). Auch wenn diese Situation recht humorvoll beschrieben wird („Y m’a dit:<N’avance pas,/si tu bouges t’es mort.>/J’aurais pas dû bouger,/maint’nant je suis mort“, V. 85 ff.), verdeutlicht der letzte Refrain „Putain qu‘ça fait mal/de crever sous la lune“ (V. 95 f.) doch den Ernst der Situation und kritisiert so die uneingeschränkte Macht der etablierten Gesellschaft. Der Ausruf putain ist im Petit Robert 1979 als vulgaire markiert und verdeutlicht ebenso wie das populäre Verb crever für „mourir“ die schwere Härte der Situation.

In diastratischer Sicht, also im Umfeld der loubards, und in diaphasischer Sicht, nämlich in der situationsnahen Nacherzählung der Ereignisse am Abend, wählt Renaud das Register des Argots der loubards. Typische Lexeme für diese Gruppen stammen aus dem Bereich der Schlägerei und Waffen (se bastonner, la castagne, en baston général, manches de pioches, se friter, flingue d’alarme, la winchester), des Trinkens (la bière à bon marché, amuse-gueules, la buvette, s’enfiler nos huit canettes, ça dessoûle) sowie aus dem Bereich der Bezeichnungen für die Polizei beziehungsweise die ordnungsschaffenden Instanzen (flicaille, les milices rurales, l’adjoint du maire). Somit wird der Protagonist eindeutig als leichtlebiger und vergnügungssüchtiger Jugendlicher charakterisiert, dessen Vorstellungen von ’Spaß‘ allerdings von den gängigen Vorstellungen der Gesellschaft abweichen – was er letztendlich mit dem Leben bezahlen muss.

 

4.7.4.2 Morphosyntax und Phonetik

Da es sich um eine Nacherzählung des loubard handelt, der Ausgang der Episode also bekannt ist, wird schon im Refrain das Ende des Chansons angekündigt: „C’est mon dernier bal,/ma dernière virée/Demain dans l’journal,/y’aura mon portrait“ (V. 13 ff u.a.). Detailliert und im Stil der gesprochenen Substandardsprache beschreibt Renaud die einzelnen Ereignisse des Abends. Auch wenn es sich um das persönliches Schicksal und die eigene Erzählung eines einzigen loubards handelt, verwendet Renaud das Personalpronomen on und drückt somit den charakteristischen Zusammenhalt der Gruppe aus („On a pris les bécanes“, V. 17; „On veut pas provoquer,/moi, j’suis pas un fondu“, V. 25 f.; „On voulait pas payer“, V. 35). Spricht der loubard allerdings von sich selbst, hebt er dieses durch moi hervor: „moi ça m’disait trop rien/j’les avais déjà vus“ (V. 3 f.); „moi, j’suis pas un fondu“ (V. 26). In der letzten Strophe allerdings spielt die Gruppe keine Rolle mehr, hier steht die Begegnung der Polizei mit dem loubard alleine im Vordergrund.

Charakteristisch für die gesprochene Sprache, besonders für die Nacherzählung eines Ereignisses, ist die Wiederholung der wörtlichen Rede: „J’ai dit à mes copains:/y’a un baloche à Sarcelles/[...]“ (V. 5 ff.); „Y m’a dit: <N’avance pas,/si tu bouges t’es mort“ (V. 85 f.). Weiter ist für die gesprochene Sprache die vereinfachte beziehungsweise die verdoppelte Verneinung kennzeichnend („on voulait pas payer“, V. 35; „y’a pas rien à tortiller“, V. 90), die allerdings in der wiedergegebenen wörtlichen Rede des adjoint au maire korrekt „N’avance pas“ (V. 85) lautet und sich somit von der Sprechweise des loubard absetzt. Vor einigen Verbformen fehlt das Personalpronomen wie bei „y’aura p’t’être des morues“ (V. 8) oder „mais faut bien dire c’qui est“ (V. 27). Die Personalpronomen treten in unterschiedlichen phonetischen Varianten auf, so wird il vor Konsonant zu <y> bei „Y m’a dit: [...]“

(V. 85) und je wird vor Konsonant verkürzt zu <j‘> („j’les avais déjà vus“, V. 4). Die Phonetik des Chansons ist typisch für die gesprochene Substandardsprache, in der viele e muets fallen und einige Lexeme stark zusammengezogen werden wie <p’t’être> statt peut-être.

Auch auf syntaktischer und phonetischer Ebene charakterisiert Renaud den Protagonisten als Jugendlichen aus der Vorstadt, der emotional, aber nachlässig von seinem dernier bal berichtet.

 

4.7.5 Deuxième génération [7]

Als das politische Chanson des Jahrzehnts gilt das antirassistische Chanson, das in den 70er und 80er Jahren entwickelt wurde (Asholt 1996, 87). Mitte der 70er Jahre werden die Immigranten als Teil der Bevölkerung akzeptiert, die Existenz der sogenannten deuxième génération wird erkannt. Seitdem nehmen die jugendlichen Immigranten selber Stellung, sei es persönlich wie die Gruppen Djur Djura, Carte de Séjour, Karim Kacel oder Lionel D. (Asholt 1996, 175 f.) oder aber indirekt, indem sie von anderen Sängern thematisiert werden. So wie von Renaud in seinem Chanson Deuxième génération. „C’est un texte dur, un texte grave qui disait la tragédie de l’immigration et la douleur de l’exil absolu“, charakterisiert Thierry Séchan (1989, 86) den Text. In diesem Chanson „il fait l’état de la plus noire misère qui puisse atteindre les milieux immigrés, les milieux pauvres en général“ (Lefèvre 1985, 23). Dennoch wurde das Chanson von bestimmten Immigranten, die sich besonders für die Integration einsetzen, heftigst kritisiert, ohne zu verstehen, dass Renaud nicht die Geschichte eines beur unter vielen anderen erzählt, sondern die persönliche Geschichte Slimanes, „enfant du refus, enfant damné et condamné“ (Séchan 1989, 87), also eines Jugendlichen aus der Vorstadt im Allgemeinen.

 

4.7.5.1 Lexik

Gleich zu Beginn des Chansons (von 1983, in: Renaud 1993, 136 ff.) stellt Renaud den Protagonisten namentlich vor: „J’m’appelle Slimane et j’ai quinze ans“ (V. 1), eine sehr untypische Darstellung für Renaud. Weiter beschreibt er das Lebensumfeld des jungen Immigranten, der bei seinen Eltern in der Pariser Vorstadt lebt und stolz auf seine kriminellen Taten ist („J’vis chez mes vieux à La Courneuve/J’ai mon C.A.P. d’délinquant“, V. 2 f.). Die Verbindung der Ausdrücke C.A.P. für „certificat d’aptitude professionnelle“ (Petit Robert 1979) und d’délinquant wirkt zunächst belustigend, zeigt aber auch den Stellenwert, den diese Beschäftigung für Slimane hat, denn er

fügt noch hinzu: „J’suis pas un nul j’ai fait mes preuves“ (V. 3). An dieser kriminellen Kompetenz hängt auch das für Slimane wichtige Ansehen in seiner Bande, er gibt sich als Anführer: „Dans la bande c’est moi qu’est l’plus grand/Sur l’bras j’ai tatoué une couleuvre“ (V. 5 f.). Dabei hat Slimane es trotz seiner vielen Delikte geschafft, noch nicht ins Gefängnis zu müssen: „J’suis pas encore allé en taule/Paraît qu’c’est à cause de mon âge/Paraît d’ailleurs qu’c’est pas Byzance“ (V. 7 ff.). Die Bezeichnung taule für prison ist ein typisches Lexem für den Argot. Der Ausdruck c’est (pas) Byzance ist eine Neuschöpfung Renauds (nach Colin 2001) als „formule exprimant une extrême satisfaction“, die „assez récente et répandue chez certains jeunes“ (ebd.) ist. Thierry Séchan bezeichnet das Lexem Byzance bei seinem Bruder sogar als „mot fétiche qu’il placera dans chacun de ses albums“ (Séchan 1989, 36). Dass es sich bei Slimanes Delikten nur um kleine Gaunereien handelt, wird in der dritten Strophe deutlich. Da er von seinen kriminellen Taten nicht leben kann, hat er in der linken Tageszeitung Libé eine Anzeige aufgesetzt, „pour m‘trouver une gonzesse sympa/Qui boss’rait pour m’payer ma bouffe/Vu qu’moi, l’boulot pour que j’y touche/Y m’faudrait deux fois plus de doigts“ (V. 21 ff.). Die Lexeme gonzesse, sympa, bosser, ma bouffe und le boulot aus dem familiären Register deuten auf eine gewisse friedliche Normalität des Protagonisten hin. Zu friedlich, denn statt zu arbeiten, möchte er „être au chôm’du/Palper du blé sans rien glander/Pi comme ça j’s’rais à la sécu/J’pourrais grattos me faire remplacer/Toutes les ratiches que j’ai perdues/Dans des bastons qu’ont mal tourné“ (V. 26 ff.). Chôm’du ist ein typischer Argot-Ausdruck, eine parasitäre Suffigierung des Lexems chômeur oder chômage, ebenso wie das Adverb grattos als resuffigierte Form von gratis, das im Dicitonnaire de l’argot français et de ses origines (Colin 2001) als Neubildung Renauds geführt wird und als „très usuel actuellement“ gilt.

In den nächsten Strophen beschreibt Renaud den Alltag der loubards in der Vorstadt, der aus Ersatzdrogen besteht (le trichlo, la colle à rustine statt l’herbe), aus kleinen Autodiebstählen – die euphemistisch mit „On cherche une B.M. pas trop ruinée/On l’emprunte pour une heure ou deux“ (V. 46 f.) beschrieben werden – , weiter aus einem Besuch bei den „putes, juste pour mater“ (V. 49) und ganz besonders aus der „musique avec des potes“ (V. 59). Das Verb mater ist im Petit Robert 1979 und 1994 als argotique markiert mit der Bedeutung „regarder sans être vu“, die Bezeichnung les putes stammt aus dem vulgären Register.

Slimane spielt in einer „groupe de hard rock/[...]/Sur des amplis un peu pourris/Sur du matos un peu chourave“ (V. 60 ff.). Typisch für die Jugendsprache und den Argot der loubards sind hier der Anglizismus hard rock, apokopierte Formen wie amplis von amplificateur, auch mit parasitärer argotischer Suffigierung bei matos als verkürzte und suffigierte Form von matériel, sowie die Adjektivform chourave, eine Ableitung aus den Argotwörtern la chourave und chouraver für „vol“ beziehungsweise „voler“. Die Form chouravé „un peu fou“ (Colin 2001) ist schon früher belegt, weshalb Renaud möglicherweise sein Adjektiv chourave von der bestehenden Form absetzt. Als Erstbeleg für die Adjektivform chourave führt Jean-Paul Colin (2001) Renaud an, mit dem entsprechenden Zitat aus Deuxième génération.

Dass es sich bei dem Protagonisten um einen Immigranten handelt, wird einerseits deutlich durch den Titel des Chansons, durch den Namen des Protagonisten und durch die Tatsache, dass die Musikgruppe en kabyle (V. 67) singt, also in einem „ensemble des dialectes et parlers berbères de Kabylie“ (Petit Robert 1979). Am deutlichsten kommt Renaud aber auf die Probleme der Immigrantenkinder in den letzten beiden Strophen zu sprechen. Handelte es sich in den vorausgehenden Episoden um Probleme und den Alltag der loubards im Allgemein, so beziehen sich die folgenden Beschreibungen ganz spezifisch auf das Leben als Ausländer in der Pariser Vorstadt: Weit weg von ihren Wurzeln, die sie nicht kennen, fühlen sich die Immigranten nirgendwo zu Hause, weder in der Vorstadt, noch in ihrem Heimatland: „Qu’là-bas aussi, j’s’rai étranger/Qu’là-bas non plus, j’s’rais personne“ (V. 81 f.). Die einzige Heimatverbundenheit bleibt „Le keffieh noir et blanc et gris“ (V. 86), den Slimane über seiner Lederjacke trägt.

Viele Lexeme stammen aus dem Bereich der Jugendsprache; dazu gehören die apokopierten Formen, die allerdings auch im français familier üblich sind, wie sympa, la sécu, le trichlo, une B.M., des amplis, resuffigierte Formen wie chôm’du, grattos, matos sowie speziell jugendsprachliche Lexeme wie c’est Byzance, les tunes, le trichlo, ça fout la gerbe und la caisse. Sprachlich wird Slimane also dargestellt wie ein loubard, für den der Alltag aus Delinquenz, Arbeitssorgen, Schlägereien, Drogen und seiner Musikgruppe besteht. Als ein Jugendlicher der deuxième génération hat er sich in den Sprachgebrauch und in das Leben der Vorstadt eingegliedert, er spricht und lebt also wie alle anderen aus der banlieue auch.

Die Gleichgültigkeit Slimanes gegenüber dem Leben drückt Renaud jeweils im Refrain aus. Slimane hat „rien à gagner, rien à perdre/Même pas la vie/J’aime que la mort dans cette vie d’merde/J’aime c’qu’est cassé/J’aime c’qu’est détruit/J’aime surtout tout c’qui vous fait peur/La douleur et la nuit...“ (V. 13 ff. u.a.). Auf diese Art versucht Renaud seinem Publikum einen Einblick in Slimanes Leben zu geben, seine Gefühle zu vermitteln und, ähnlich wie bei Baston!, die Gewalt zu erklären. Zwar sucht er keine Entschuldigungen für Slimanes Verhalten als „être agressif, redoutable et paresseux“ (Lefèvre 1985, 23), aber „il sait trouver le juste milieu, montrer qu’en chaque situation, les arguments opposés sont aussi fondés les uns que les autres“ (ebd.).

 

4.7.5.2 Morphosyntax und Phonetik

Der Text des Chansons ist aufgebaut wie eine spontane Erzählung Slimanes, der die Möglichkeit hat, sich außerhalb der banlieue vorzustellen, in erster Linie also den bourgeois aus Paris. Beginnend mit den fundamentalen Informationen wie Name, Alter, Wohnort und ’Beruf‘ fährt Slimane mit der Schilderung seines Alltags und seines Lebensumfeldes fort. Typisch für diese Art der Präsentation ist der Drang, sich in ein gutes Licht zu rücken, also betont er, wie bereits zitiert: „J’suis pas un nul j’ai fait mes preuves/Dans la bande c’est moi qu’est l’plus grand/Sur l’bras j’ai tatoué une couleuvre“ (V. 4 ff.). Seine Schilderung wird durch Füllwörter wie d’ailleurs, un peu, paraît que, pi comme ça, alors, c’est vrai que –mais, et pi strukturiert, manchmal relativierend, manchmal rechtfertigend. Slimane wendet sich direkt an seine Zuhörer, so in „Parc’que ici tu crois qu’c’est drôle/Tu crois qu’la rue c’est les vacances“

(V. 11 f.); „J’aime surtout tout c’qui fait peur“ (V. 18); „Comme quoi, tu vois, c’est pas gagné“ (V. 25). Durch diese Äußerungen wird auch deutlich, dass sich Slimane an ein Publikum wendet, welches das Leben in der Vorstadt mit all seinen Gesetzen und Problemen nicht kennt. Slimane bleibt in seiner Erzählung hauptsächlich in der ersten Person Singular, hebt sogar seine eigene Stellung durch moi, je hervor und wechselt erst zu dem pluralen on, wenn er von charakteristischen Unternehmungen in der Gruppe spricht („On rôde sur les parkings“, V. 45; „On va aux putes“, V. 49; „On a fait un groupe de hard rock“, V. 60). Charakteristisch für die spontane, nachlässige Substandardsprache sind die vereinfachte Verneinung („J’suis pas encore allé en taule“, V. 7), das Fehlen der unpersönlichen Subjektpronomina bei il paraît que und il y a („Y’a un autr’truc qui m’branche aussi“, V. 58; „Paraît qu’c’est à cause de mon âge“, V. 8), sowie die Hervorhebung bestimmter Satzteile durch dislocation und présentatifs: „Tu crois qu’la rue c’est les vacances“ (V. 12), wobei keine Numeruskongruenz zwischen dem pluralen Prädikativum und dem Verb être besteht; weiter „Vu qu’moi, l’boulot pour que j’y touche“ (V. 23); „C’que j’voudrais, c’est être au chôm’du“ (V. 26) und „Mais pour le prix, c’est c’qu’on fait d’mieux“ (V. 43).

Auch die Phonetik entspricht der nachlässigen Substandardsprache, insbesondere dem français populaire. Das e muet fällt fast regelmäßig aus, besonders bei den Personalmorphemen je und me, weiter bei Artikeln oder Konjunktionen (le und que), sowie inmitten eines Lexems. Das Relativpronomen qui wird vor Vokal verkürzt zu <qu‘> und nähert sich so dem Relativpronomen que an: „Dans des bastons qu’ont mal tourné“ (V. 31); „J’aime c’qu’est cassé/J’aime c’qu’est détruit“ (V. 35 f.u.a.). Einige Lexeme werden stark verkürzt und vereinfacht, wie <p’t’être> statt peut-être oder <pi> statt puis.

Durch diese syntaktischen und phonetischen Merkmale der gesprochenen Sprache wirkt der Text wie eine persönliche, spontane Erzählung eines Jugendlichen aus der Vorstadt. Auf diese Weise kann sich das Publikum in die Figur Slimanes hineinversetzen, der Protagonist wird eindeutig durch seine Sprache charakterisiert und situiert. Dabei steht die Sprache in direktem Bezug zum Inhalt des Textes, anders als bei Baston!, da Renaud in diesem Chanson nicht aus der Sicht seines Protagonisten berichtet, sondern über ihn als Beobachter spricht und somit nicht direkt dessen Vokabular und dessen Sprache wiedergibt.

 

4.7.6. La boum [8]

Ein großer Bestandteil von Renauds Jugend waren les boums und la drague (Lefèvre 1985, 28). Allerdings hat Renaud selbst die Atmosphäre auf diesen Partys nie sehr gemocht. „Les boums, où il se rendait avec ses copains, à mobylette, c’en était le théatre“ (Lefèvre 1985, 28). Denn Tanzen war und ist nicht Renauds Stärke: „Seul le slow lui convient“ (Lefèvre 1985, 28), da dieser ein leichter Tanz ist, der zudem noch die Möglichkeit bietet, mit einem Mädchen zu flirten. „Renaud attendra dans un coin de la salle, les jours de boum, les fameuses séries de slows qu’il affectionne tant“ (Lefèvre 1985, 28). Dieses Verhalten und seine Einstellung zu den boums kommt auch in dem Chanson (von 1980, in: Renaud 1988, 89 ff.) zum Vorschein, denn „La Boum c’est du vécu 100% avec quelques anecdotes inventées et quelques trucs drôles ajoutés pour les besoins de la chanson“ (Erwan 1982, 14).

 

4.7.6.1 Lexik

Sehr treffend gibt Renaud die Stimmung und den Ablauf einer Party aus seiner Jugend wieder. Die wichtigsten Elemente einer solchen Fête waren die Mädchen und der Alkohol. In der ersten Strophe dann schon Renauds erste Enttäuschung. Er wird von seinen Freunden auf eine Party eingeladen, mit der Aussicht „y’aura p’t’être la

Sylvie/qui viendra sans son mec“ (V. 3 f.). Auf feste Beziehungen wird also kein Wert gelegt. Zwar ist die besagte Sylvie „con comme un manche“ (V. 5), aber Renaud wird leichtes Spiel bei ihr haben, denn „mais t’as la cote avec“ (V. 6) ist der familiäre Ausdruck für „être estimé“ (Petit Robert 1979). Die Beschreibung con comme un manche ist sehr abwertend im Argot der loubards und bedeutet „imbécile, maladroit“ (Colin 2001). Renauds Freunde versichern im familiären Register „T’as pas à t’faire de bile/pour toi c’est dans la poche/t’es pas encore débile/et elle est pas trop moche“ (V. 7 ff.). Allerdings kommt es anders als erwartet, denn „Elle est pas v’nu la belle/moi j’ai t’nu les chandelles“ (V. 11 f.), wobei die Wendung tenir les chandelles die französische Entsprechung des deutschen „fünften Rad am Wagen“ ist.

Ein weiteres Mal wird Renaud vertröstet („t’en fais pas“, V. 17), denn auf der Fête „des minettes y’en aura beaucoup plus que des mecs/le quart-d’heure américain/ça va tripoter sec“ (V. 17 ff.). Le quart-d’heure américain bezieht sich auf die Damenwahl bei den entsprechenden langsamen Tänzen, für die mecs also die Gelegenheit, einem Mädchen näher zu kommen, was durch ça va tripoter sec auf eine sehr vulgäre und argotische Art ausgedrückt wird. Die Enttäuschung Renauds ist wieder groß, denn für die 24 poilus sind nur 12 Mädchen da, und Renaud bemerkt ironisch „on fait mieux comme partouze“ (V. 22), wobei partouze der populäre Ausdruck für eine „partie de débauche“ ist, ein sittenloser, freizügiger Partnertausch. Renaud hält sich lieber an „les p’tits Lu“ (V. 24). Die Bezeichnung petit Lu stammt aus einer gängigen familiären Formulierung: der familiäre Ausdruck für ivre lautet unter anderem beurré. Daraus hat sich der geläufige Ausdruck beurré comme un petit Lu entwickelt, der sich auf ein Wortspiel mit den als petit-beurre bezeichneten Butterkeksen der Firma De Beukeler Lu bezieht (Duneton 1998, 300 f.).

Sehr herablassend beschreibt Renaud weiter die Atmosphäre auf der Party, besonders die lächerlichen Gäste: „y flippaient comme des bêtes/autour d’une chaîne pourrie/y’fumaient des P 4/en buvant du Coca/un pauvr‘ type sur sa gratte/jouait Jeux interdits/y’avait même une nana/qui trouvait ça joli“ (V. 32 ff.). Renaud wertet diese Party durch die negative Beschreibung ab. Das Adjektiv pourri steht im Argot für „ce qui ne vaut rien, qui est usé, en mauvais état“ (Colin 2001), ebenso verachtet Renaud die billige Zigarettenmarke P 4 sowie den Konsum nicht-alkoholischer Getränke wie Coca-Cola; spöttisch beschreibt er den pauvr’type mit seiner gratte (gratte ist die argotische Bedeutung von guitare), der alte Lieder spielt. Auf der Party sind auch einige loubards, die Platten und Portemonnaies („les larfeuilles“, V. 47) klauen, was Renaud am wenigsten stört: „J’voyais tout, j’disais rien/c’était mes potes d’Argenteuil“ (V. 48 f.).

Der Abend endet nicht sehr erfreulich; Renaud begegnet den roussins (V. 61), den agents de police (Colin 2001) und erhält eine Verwarnung (PV – „Contravention“), weil er kein Licht an seiner meule hat. Die meule ist das typische Gefährt für Jugendliche, da man für dieses „véhicule motorisé“ (Petit Robert 1979) keinen Führerschein benötigt. Renauds Erwartungen haben sich an diesem Abend nicht erfüllt, weder hat er eine gonzesse gefunden, noch hat er genug Alkohol getrunken: „Puis j’suis rentré tout seul/même pas en état d’ivresse“ (V. 69 f.). Sein Resultat also: „J’irai plus dans vos boums,/elles sont tristes à pleurer,/comme un sourire de clown,/comme la pluie sur l’été“.

Renaud charakterisiert sich in diesem Chanson als durchschnittlichen Jugendlichen, was auch am Vokabular deutlich wird. In seiner Darstellung bleibt Renaud weitestgehend im familiären Register und populären Sprachniveau, wobei die Lexeme sich auf typische semantische Felder beziehen und charakteristisch für die Jugendsprache sind, wie sa gratte, la boum, ma meule, des minettes, flipper, une chaîne pourrie und Coca. (Duneton 1998). Sehr differenziert beschreibt Renaud die Gäste der Party mit les copains, les mecs, des poilus, un pauvr’type, des loubards und mes potes, oder die Mädchen mit la Sylvie, la belle, des minettes, des filles und une nana. Renauds Ablehnung dieser Fêten und seine Langeweile schlagen sich auch im Vokabular nieder, da viele Lexeme negativ konnotiert sind, wie con comme un manche, partouze, comme des bêtes, une chaîne pourrie und tristes à pleurer.

 

4.7.6.2 Morphosyntax und Phonetik

Da es sich um eine persönliche und emotionale Schilderung einer typischen Jugend-Party handelt, entspricht auch die Syntax den Regeln der gesprochenen, spontanen Substandardsprache. Durch den Einschub der direkten Rede wird das Geschehen lebendig beschrieben, so „Les copains m’avaient dit:/On compte sur toi dimanche/ [...]“ (V. 1 ff.) oder „Toute façon, t’en fais pas, m’avaient dit les copains“ (V. 17). Auf diese Weise vermittelt Renaud auch seine Beziehung zu den copains, er stellt deutlich heraus, dass er durch, wie sich später herausstellen wird, falsche Versprechungen wie „T’as pas à t’faire de bile/pour toi c’est dans la poche“ (V. 7 f.) und „des minettes y’en aura beaucoup plus que des mecs/le quart-d’heure américain/ça va tripoter sec“ (V. 17 ff.) zu dieser Party überredet, ja gelockt wurde. Seine Enttäuschung drückt Renaud durch die Betonung moi je und die Beschreibung der tatsächlichen Situation aus: „Elle est pas v’nue la belle,/moi j’ai t’nu les chandelles“ (V. 11 f.) und „On fait mieux comme partouze./Mais moi j’suis pas aigri“(V. 22 f.). Besonders wichtige Elemente werden hervorgehoben wie „des minettes y’en aura beaucoup plus que des mecs“ (V. 17); „Des filles y’en avait qu’douze pour quatre-vingt poilus“ (V. 21); „y’a qu’avec les p’tits Lu/qu‘ça a été l’orgie“ (V. 24 f.). Die Erzählung ist chronologisch aufgebaut, wobei einige angekündigte Episoden direkt im Nachhinein kommentiert werden. Zunächst steht die Einladung der Freunde im Futur („On compte sur toi dimanche/y’aura p’t’être la Sylvie/qui viendra sans son mec“, V. 2 ff.), ebenso wie die Versprechung der Freunde während der Feier nach Renauds erster Enttäuschung: „des minettes y’en aura beaucoup plus que des mecs/[...]/ça va tripoter sec“ (V. 17 ff.). Weiter beschreibt Renaud den Verlauf des Abends chronologisch durch lorsque, plus tard und puis („Lorsque j’suis arrivé sur ma vieille mobylette“, V. 30; „Lorsque j’me suis barré“, V. 30). Seine rein beobachtende und passive, gelangweilte Haltung spiegelt sich in der Beschreibung durch y’en avait qui, y‘flippaient, y’fumaient, y’avait deux, trois loubards (V. 31, 32, 34, 44).

Charakteristisch für die gesprochene Substandardsprache ist die Vereinfachung der Satzstruktur. So gibt es keine Numeruskongruenz zwischen dem pluralen Prädikativum und dem Verb bei „c’était mes potes d’Argenteuil“ (V. 49), was allerdings phonetisch nicht auffällt, da était und étaient als [etE] ausgesprochen werden. Anders ist der Fall allerdings beim Auslassen der Personalpronomina wie in „M’ont foutu un PV“ (V. 65) und „ont cru bon d’ajouter“ (V. 67). Im Vers „M’ont foutu un PV/pas d’lumière sur ma meule“ (V. 65 f.) werden sogar ganze Satzelemente ausgelassen wie „parce que je n’avais pas de lumière sur ma meule“.

Die unpersönlichen Subjektpronomina bei il faut und il y a fehlen: „Faut dire qu’j’ai raconté/trois cent mille histoires belges“ (V. 52); „Y’avait deux, trois loubards“

(V. 44).

Der spontanen, nachlässigen Sprache steht die fast poetische Sprache des Refrains gegenüber. Formulierungen wie tristes à pleurer und Vergleiche wie comme un sourire de clown, comme la pluie sur l’été gehören nicht in der Bereich der spontanen gesprochenen Sprache. Sie stehen auch vornehmlich als persönliches Resultat dieser Geschichte und haben mit der direkten Schilderung der Ereignisse nichts zu tun, charakterisieren Renaud also als Jugendlichen, der sich von der Masse abhebt, sich nicht amüsiert und auch auf einer anderen Ebene kommunizieren kann.

Im Bereich der Phonetik wird deutlich, dass es sich um eine besonders nachlässige Sprache handelt. Die Personalmorpheme sind phonetisch verändert, so wird tu vor Vokal verkürzt zu <t‘> („mais t’as la cote avec“, V. 6). Weiter wird je vor Konsonant zu <j‘> („j’suis pas aigri“, V. 23), wodurch phonetische Verschleifungen entstehen wie bei „j’me suis barré“ [Sm«] oder „j’suis“ [Ssçi]; ils wird vor Konsonant zu <y‘> („y‘ flippaient comme des bêtes“, V. 32; „y’fumaient des P 4“, V. 34), vor Vokal bleibt allerdings das Phonem [z] zur Pluralmarkierung erhalten, ils wird also zu <y z‘> („on cru bon d’ajouter/qu’y z’aimaient la jeunesse“, V. 78).

Das e muet fällt sehr häufig, am Wortende sowie im Wortinneren. Oft wird das Relativpronomen qui vor Vokal verkürzt zu <qu‘> und somit an das Relativpronomen qui angeglichen: „y’en avait qu’écoutaient l’dernier David Bowie“ (V. 31); „y’avait deux, trois loubards/qu’assumaient leurs instincts“ (V. 44 f.).

Durch diese phonetischen und morphosyntaktischen Abweichungen von der Norm wird deutlich, dass es sich um ein nachlässigeres Sprachregister handelt, dass also die erzählende Figur in diaphasischer Sicht keinen Wert auf sprachliche Korrektheit legt. Vielmehr bleibt er in diastratischer Sicht in seinem geläufigen Register und spricht so den Zuhörer persönlich an. Durch dieses Sprachniveau gelingt es auch, die Gefühle und Einstellungen des Protagonisten zu vermitteln.

 



[1] Aus dem Album Marche à l’ombre, Polydor 1980.

[2] Le Palace ist der Name einer gut besuchten Diskothek in Paris.

[3] Aus dem Album Laisse béton, Polydor 1977.

[4] Jean-Paul Colin (2001) verzeichnet le baston und merkt an: „Le genre féminin apparaît tardivement“ und führt ein Beispiel von la baston an.

[5] Aus dem Album Marche à l’ombre, Polydor 1980.

[6] Aus dem Album Ma gonzesse, Polydor 1979.

[7] Aus dem Album Morgane de toi, Polydor 1983.

[8] Aus dem Album Laisse béton, Polydor 1977.

"Caractérisation linguistique des personnages des chansons de Renaud" par Barbara Bungter - Présentation en ligne